Jetzt vielleicht?
Wenn Freude so anstrengend ist wie das Schuften unter Tage. Zdeněk Straka über seine Arbeit als Verkäufer der Obdachlosenzeitschrift „Nový prostor“ (Neuer Raum).
Schon immer war es mir zuwider, wenn mich jemand auf der Straße genervt hat. Ganz gleich, ob da jemand eine Zigarette oder Kleingeld wollte oder mir irgendetwas wahnsinnig Tolles aufzuschwatzen versuchte. Irgendetwas so Großartiges, dass man sich nur wundern musste, wie ich vorher ohne es überhaupt leben konnte. Ein Extrem waren die Leute, die vor mir bitterlich losheulten und den Kopf auf meine Schulter legten. Heute hätten sie noch nichts verkauft, bestimmt müssten sie verhungern und ihre ganze Familie gleich mit, wenn es nicht gerade ich wäre, der ihnen helfen würde. Ich bin für Entscheidungsfreiheit, nicht für Erpressung. Und außerdem habe ich nicht gerne nasse Schultern.
Wie hätte ich ahnen können, dass ich mal in einer ähnlichen Situation sein werde. Einige falsche Entscheidungen, der Zerfall der Familie – und plötzlich war ich auf der Straße, mit nichts weiter als meinem Rucksack. Die Taschen leer, ein ganzes Universum voller Schulden.
Wem gehört die Stadt?
Ich werde jetzt nicht viele Worte über meine Anfänge auf der Straße verlieren. Ich bin eben ganz stereotyp zum Frühstück, Mittag- und Abendessen zur Charitas gegangen. Ich habe Plätze zum Übernachten gesucht. Aber vor allem habe ich mich entschleunigt. Ich habe gelernt, mich nicht beeilen zu müssen. Ich schaue mich um und sehe die Schönheit der Stadt, in der ich lebe. Jetzt, ohne Dach über dem Kopf, gehört sie mir mehr als den anderen. Mehr als denen, die sich jeden Abend in ihr Bett legen und vorher ihre Tür zu ihrer Wohnung oder zu ihrem Haus abschließen.
In einem Nachtlager lernte ich einen gewissen Láďa kennen. Er sagte mir, er verkaufe die Zeitschrift Nový Prostor (Neuer Raum) und käme damit ganz gut über die Runden. Wir gingen morgens immer zum Bahnhof einen Kaffee trinken. Nachdem ich ihm mal 100 Kronen (rund 3,70 Euro) geliehen hatte, sah ich ihn nicht mehr wieder. Mit der Zeit habe ich dann begriffen, dass eine finanzielle Hilfe für einen Menschen in Not keine Leihe, sondern ein Geschenk ist. Bei Láďa hat mir das nichts ausgemacht. Dank ihm ist aus mir ein Street paper-Verkäufer geworden.
Ich bin sehr froh, dass ich diese Arbeit habe. Sie hilft mir wirklich enorm. Nicht nur was Einkünfte angeht, sondern auch wegen der Menschen, die ich dank dieser Arbeit getroffen habe. Es hat mehrere Monate gedauert, bis ich an meinem dritten oder vierten Verkaufsort verwurzelt war. Dieser Ort ist der Platz Jiřího z Poděbrad in Prag-Vinohrady– und zwar zu den Zeiten, wenn dort der Wochenmarkt stattfindet. Und weil ich genau dort stehe, wo sich die Wege zur Metro, zur Straßenbahn, zur Kirche und zu den umliegenden Straßen kreuzen, gehen die meisten Besucher des Marktes an mir vorbei. Mit der Zeit bemerkte ich, dass die Menschen vor mir meistens aus ihren Taschen ihre... erratet ihr es? Ja, richtig! ... ihre Portemonnaies herausholten. Leider tut das nur etwa ein Prozent von ihnen wegen mir. Die anderen wollen einfach schon vorbereitet sein. Damit sie sich am nächstbesten Marktstand eindecken und natürlich bezahlen können. Weniger häufig kommt es vor, dass sie die gekaufte Ware gar nicht mitnehmen. Es reicht das Gefühl. Auswählen und bezahlen. Ich sehe dann wie die Verkäufer in der Menge ihre vergesslichen Kunden suchen, um ihnen das in die Taschen zu stecken, was ihnen gehört.
Keine Zeit für Enttäuschung
Aber gerade diese Kunden wecken in mir Freude, ja sogar Euphorie. Warum holt wohl jemand vor einem das Portmonnaie raus, warum? Manche zählen sogar Kleingeld ab. Sie sehen mich an, sehen auf die Zeitschrift, meistens lächeln sie dann und gehen mit ihren vollen Händen zum Stand mit dem Bier oder dem Hackbraten im Brötchen. Ich habe nicht mal die Zeit enttäuscht zu sein, denn da kommt schon wieder jemand auf mich zu und holt sein Portmonnaie raus. Die Freude steigert sich, bis ich schon glaube, dass ich sie nicht mehr ertragen kann. Ich irre mich. Nach meinen Erfahrungen mit dem Leben auf der Straße ertrage ich davon noch mehr, viel mehr. Oft passiert es mir, dass ich bloß wegen der reinen Freude und den warmen Lächeln nach der Arbeit so erschöpft bin, als hätte unter Tage im Kohleschacht geschuftet.
Mirek, einer der Obdachlosen des Viertels bleibt bei mir stehen.
„Na, wie läuft’s, Zdeněk?“ fragt er.
„Nicht so toll, heute hab ich nur zwei Zeitschriften verkauft“, antworte ich.
„Ich hatte ja einen ganz guten Monat. Ich hab sieben goldene Ringe, dreizehn Handys und ein Notebook gefunden. Dafür hab ich 40.000 (in Euro knapp 1500) bekommen. Und darin ist noch gar nicht das Bild eingerechnet, das ich an einer Haltestelle gefunden hab, und für das ich 25.000 (in Euro knapp 930) bekommen kann. Das hat mir ein Antiquitätenhändler gesagt, als ich ihm das Bild beschrieben habe!“
Ich bin nicht neidisch, jedem wünsche ich nur das Beste. Aber diese Information hat mich beinahe umgehauen.
„Wo, Mirek, läufst du lang? Kannst du mich mitnehmen?“
„Ich laufe überall rum. Tschüss.“
Mirek geht wieder und ich muss mich erinnern, wie mir als siebenjährigem Erstklässler fünf Kronen vor die Füße flatterten. Die waren damals noch aus Papier. Ich bin damit direkt in die Drogerie gelaufen und habe meiner Mama eine Seife für vier Kronen gekauft. Es war kurz nach Weihnachten, also habe ich sie noch festlich verpacken lassen und zu Hause unter die nadelnde Fichte gelegt. Seitdem gehe ich immer mit leicht gesenktem Kopf durch die Gegend. In all den Jahren habe ich zwar immer mal wieder ein bißchen Kleingeld gefunden, aber für die Tabletten gegen die Nacken- und Rückenschmerzen habe ich in der Apotheke wesentlich mehr gelassen.
Jetzt aber wieder zurück zum Verkauf. Mir zittern die Beine. Vor Freude. Auf meiner Kreuzung haben sich drei Leute getroffen. Sie kramen in ihren Taschen. Jetzt vielleicht?
Übersetzung: Patrick Hamouz