Die Schlacht um Mythodea
Abenteuerurlaub oder Realitätsflucht?
Einmal im Jahr entsteht in der Nähe von Hannover die ans Mittelalter angelehnte Fantasy-Welt Mythodea. Mehr als 6000 Liverollenspieler verwandeln das beschauliche Rittergut Brokeloh in ein Schlachtfeld mit Rittern, Elfen, Orks und Zombies. Mythodea hat längst internationalen Charakter: Besucher aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich, England, der Schweiz und sogar aus den USA haben das Spektakel für sich entdeckt. Es ist das größte LARP-Conquest der Welt.
Ein Hobby, von dem man nicht jedem erzählt
Wie genau läuft so ein LARP-Festival ab? Und was sind das eigentlich für Leute, die für eine Woche lang in eine andere Rolle schlüpfen, die sich in der prallen Sonne aufs Schlachtfeld stellen, mit Schaumstoff-Waffen aufeinander eindreschen und dafür auch noch Geld ausgeben? Ist Mythodea ein spannender Abenteuerurlaub für Fantasy-Fans, die nicht immer nur Bücher lesen oder Filme schauen, sondern selbst eine Geschichte aktiv mitgestalten wollen? Oder versammeln sich hier heimliche Realitätsflüchtlinge, die ihr Dasein am liebsten ganz in eine Parallelwelt verlegen würden?
Aus Erfahrung weiß ich: LARP ist ein Hobby, von dem man nicht unbedingt jedem erzählt. Und wenn man es doch tut, dann erntet man oft befremdete Blicke, ist gleich als „Freak“ verschrien oder erst mal eine Weile damit beschäftigt, zu erklären, dass LARP nichts mit klassischem Schauspiel oder mit einer Therapiemethode beim Psychologen zu tun hat.
Dabei ist das Prinzip eigentlich recht simpel: Die Organisatoren entwerfen einen Handlungsstrang (Plot) und die Teilnehmer agieren innerhalb dieses abgesteckten Rahmens. Am ehesten lässt sich das Ganze mit einem Computerspiel vergleichen: Figuren werden mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet und müssen dann bestimmte Aufgaben lösen und kommen so immer weiter in der Geschichte voran. Wie World of Warcraft, nur eben als Live-Event mit 6000 Mitstreitern und ganze fünf Tage am Stück.
Feuer, Wasser, Luft, Erde und… Zombies!
Wer keine Lust hat, seine Rolle ganze 120 Stunden lang durchzuziehen, der hat auch die Möglichkeit, als so genannter NSC (Nichtspielercharakter) teilzunehmen. Diese Teilnehmer können nicht in den Plot eingreifen und bekommen davon in der Regel auch nicht allzu viel mit. NSC erfüllen ihre Rollen vor allem im Schlachtengetümmel, wenn sie den Spielern in der Gestalt von Untoten oder wandelnden Pestbeulen das Leben schwer machen. Kurz gesagt: Sie sorgen für Ambiente. Dazu gehört es natürlich, so echt wie möglich auszusehen. Auf das Outfit wird viel Wert gelegt: „Der Rollenspieler an sich ist eitel“, behauptet Sebastian, der bereits seit 10 Jahren begeisterter LARPer ist.
Großer Aufwand, größere Wirkung
Ein „normaler“ Mensch kann sich schnell und günstig in einen Fantasy-Helden verwandeln: Hose und Hemd vom Online-Versand, dazu vielleicht noch Gürtel und Hut – fertig. Für die meisten ist LARP jedoch ein recht teures und zeitaufwändiges Hobby. Meine Freunde und ich arbeiten beispielsweise schon seit Januar an unseren Gewandungen: In der Schlacht verkörpern wir eine Horde untoter Wüstenkrieger. Diese Idee stammt von Holger, der ebenfalls schon viel LARP-Erfahrung besitzt und beim Kostüm großen Wert auf Authentizität legt. „Je wohler man sich in seinem Kostüm fühlt, desto leichter kann man seine Rolle verkörpern, und desto mehr Spaß macht es“, findet er.
Im Laufe von sechs Monaten haben wir also eifrig Wappenröcke geschneidert, Turbanbinden gelernt, Umhänge verschlissen und vor dem Spiegel geprobt, wie man mit Schminke und Kunstblut glaubhaft einen Zombiekrieger verkörpert. Außerdem wurden Waffen gebastelt und Performances einstudiert, um auf dem Schlachtfeld eine gute Figur zu machen.
Eine Stunde dauert allein das Anlegen des Outfits. Es gibt allerdings auch Gerüchte von LARPern, die bis zu drei Stunden vor der Schlacht in ihrem Zelt verschwinden und beim Ankleiden auf gar keinen Fall gestört werden wollen.
Wirklich nur ein Hobby...?
Sind LARPer also tatsächlich Freaks, die sich und ihre Rolle viel zu ernst nehmen? „Ja und nein“, glaubt Holger. „Ein bisschen verrückt muss man wahrscheinlich schon sein, um an so einem Hobby Spaß zu haben. Man muss sich auf die Szenarien einlassen können und selbst ein bisschen in die Welt von Mythodea eintauchen – und dazu gehört eben auch, die Realität zeitweise etwas auszublenden. Wer das nicht kann, der wird sich auf LARP-Veranstaltungen schnell fehl am Platze fühlen. Der sieht in Leuten wie uns wahrscheinlich tatsächlich nur ein Haufen komischer Typen in seltsamen Klamotten.“
Gleichzeitig, erklärt er, brauche es immer ein bisschen Distanz zur eigenen Rolle. Das sieht auch sein Mitstreiter Thomas so: „Gutes Rollenspiel bedeutet vor allem Gemeinschaft. Wer sich zu sehr in seiner eigenen Rolle verliert, der verliert auch den Blick für andere und somit für das, was Rollenspiel eigentlich ausmacht, nämlich die Interaktion mit anderen. So jemand spielt irgendwann nur noch für sich selbst. Und am Ende steht er damit meistens auch alleine da.“
Der Blick auf andere ist besonders bei den Schlachtszenen wichtig. In der Regel gehen die Teilnehmer rücksichtsvoll miteinander um und natürlich sind nur LARP-taugliche Waffen zugelassen. Außerdem sind immer ein paar Leute vom Organisations-Team zugegen: Wer zu übermotiviert an den Kampf herangeht, wird gebremst und bei Bedarf auch des Platzes verwiesen. Außerdem sind stets Sanitäter vor Ort.
Die vom Plot vorgeschriebene Feindschaft besteht allerdings nicht über die Kampfszenen hinaus. Vielmehr werden nach der Schlacht, wenn die Akteure nicht mehr in ihrer Rolle bleiben müssen, Hände geschüttelt, besonders beeindruckende Duelle gelobt und nicht selten werden bei einem Bier in der Taverne neue Freundschaften besiegelt, die dann auch über Mythodea hinaus Bestand haben.
Kulturschock vom „normalen“ Leben
Zugegeben: Nach fünf Tagen Mythodea freue ich mich auch wieder auf zu Hause, auf ein richtiges Bett und auf Annehmlichkeiten wie Herd, Kaffeemaschine und Fernseher. Dennoch ist die Rückkehr ins normale Leben auch immer ein kleiner Kulturschock: Ich trage wieder Alltagsklamotten, darf nicht mehr mit Zombie-Schminke Angst und Schrecken verbreiten, und wenn ich aus Gewohnheit noch einmal in Mittelalter-Slang verfalle, dann schauen mich alle ganz komisch an – und das natürlich völlig zu Recht!
Deshalb freue ich mich wie meisten LARPer heimlich schon wieder auf das nächste Jahr und auf neue Abenteuer in Mythodea. Bis dahin müssen noch viele neue Ideen umgesetzt, Kostüme geflickt und ausgestaltet werden. Denn, so lautet ein beliebter Spruch unter Rollenspielern: Nach dem LARP ist vor dem LARP!