Schaumzikade statt Schweinefilet
Sich dem Ekel erwehren und Insekten verzehren
Es passiert meist nachts im Dunkeln, manchmal auch am helllichten Tag, oft beim Fahrradfahren: Bei erfrischendem sommerlichen Fahrtwind öffnet man den Mund zu einem genüsslichen „Aaaah…“ und schwupp… Schon hat sich eine Fliege in den Schlund verirrt, um dort mit einem letzten Summen ihr Leben zu beenden. Rein statistisch gesehen, verschluckt jeder Mensch 500 Insekten in seinem Leben. Doch wohl die wenigsten Mitteleuropäer würden sie auch bewusst zu sich nehmen.
Entomophagie, so nennen die Wissenschaftler den Verzehr von Insekten. In Mitteleuropa vergeht den meisten schon allein beim Gedanken daran der Appetit. Nicht so Kai Sackmann. Beim ihm stehen häufig Heuschrecken, Käferlarven oder Zikaden auf dem Speiseplan.
An den Zeitpunkt, wann er zum ersten Mal einen kleinen Chitinpanzer zwischen seinen Backenzähen zermalmte wie eine Autopresse einen Fünftürer, kann sich Sackmann nicht mehr genau erinnern. Er war elf, zwölf Jahre alt, als ihn das Überlebenstraining in seinen Bann und in den Wald zog. Damals sei es für auch ihn noch „unvorstellbar“ gewesen, ein Insekt als kleinen Snack in der Natur zu sich zu nehmen.
Feuer machen, Hütten bauen und Pflanzen sammeln reizten ihn zunächst viel mehr. „Erst als ich mit den Jahren immer tiefer in das Thema eintauchte und mich intensiv mit den Prinzipien des Überlebens beschäftigte, wuchs auch mein Interesse an der Beschaffung tierischer Nahrungsgüter“, sagt Sackmann rückblickend.
Wildschweine jagen oder Vögel fangen – ohne entsprechende Ausrüstung und Techniken ist das beinahe unmöglich. So liegt es nahe, dass Sackmann beim imitierten Kampf ums Überleben pragmatisch zu denken begann: Fortan hielt er Ausschau nach Tieren, „ die etwas langsamer sind und zumeist nur eingesammelt werden müssen“ – Insekten eben. Der Kampf ums Überleben wurde deshalb plötzlich auch ein Kampf gegen den Ekel: „Ich habe immer nur einzelne Insekten probiert. Bei jeder neuen Art musste ich mich erneut überwinden und nicht selten habe ich das Tier auch wieder ausgespuckt.“
Ekel – Eine Frage der Erziehung
Beim Ekel handelt es sich allerdings nicht um eine angeborene Empfindung: „Erst wenn man verstanden hat, dass der Ekel auf einer mangelnden Gewöhnung beruht, wird man sich auf Insektennahrung konditionieren können“, sagt Sackmann aus eigener Erfahrung. Babys mögen zwar lieber Süßes als Bitteres, doch Abneigung oder Widerwillen gegen bestimmte Lebensmittel oder Speisen entstehen erst bei der Sozialisation, sie sind ein Produkt der Erziehung. In der europäischen Esskultur spielen Krabbeltiere bekanntlich keine Rolle. In vielen Teilen der Erde ist das anders: Etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung greifen bei ihrer Ernährung auf Insekten zurück, viele Menschen gezwungenermaßen, mangels fleischartiger Alternativen.
Um sich einfacher zu überwinden, könne man die Insekten zusammen mit anderen Nahrungsmitteln verkochen: „Auf diese Weise besitzt die Speise einen bekannten Geschmack und ist viel angenehmer zu essen“, empfiehlt der Survival-Fan. Wer neugierig ist, muss nicht einmal selbst im Wald unter Blättern wühlen oder morsche Baumrinden absuchen: Ein paar Klicks im Internet genügen und wenige Tage später kommen Grillen, Mehlwürmer oder Ameisen per Post. Einigen Angeboten solcher Online-Shops kann der Naturfreund allerdings wenig abgewinnen: „Insekten, Skorpione und andere Tiere in Kunstharz zu gießen und als Flaschenöffner, Computermäuse und Schmuckstücke anzubieten, finde ich äußerst makaber und respektlos dem Leben gegenüber“, kritisiert Sackmann.
Entomophagie für die Quote
Ähnlich kritisch fällt seine Bewertung von Fernsehshows aus, in denen mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten in Urwäldern am anderen Ende der Welt Ekel-Prüfungen bestehen müssen. Dabei ist das Anfassen und Verspeisen von Insekten häufig ein zentrales Element: „Beim Zuschauer wirkt die Kombination von Ekel und Faszination und sorgt für Einschaltquoten“, so Sackmann. Solche Shows würden nur zu einer Bestätigung oder Steigerung eines Ekelgefühls führen und nicht zu einem Verständnis der Entomophagie.
Dabei wäre es vielleicht gar nicht so verkehrt, sich einmal rationaler mit dem Verzehr von Insekten auseinanderzusetzen. So gibt es Experten, die in Zukunft einen Nahrungsmangel durch das immer schnellere Bevölkerungswachstum befürchten. Serge Verniau von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen forderte 2011, den Fleischverbrauch zu reduzieren und stattdessen Insekten bewusst zu züchten: „Die gesamte Erde nur mit Proteinen aus Rindfleisch zu versorgen, wird nicht gelingen“, sagte er damals dem englischen Guardian. Von Sackmann erhält er Unterstützung: „Insekten könnten eine Teillösung darstellen, sie sind schnell und ressourcenarm zu züchten.“
Sackmann vermutet jedoch wohl mit Recht, dass der Großteil der Menschen unseres Kulturkreises die Insekten nicht in unbearbeiteter Form annehmen würde: „Die Lebensmittelindustrie müsste Produkte herstellen die zwar Insekten beinhalten, jedoch nicht mehr nach Insekten aussehen.“ Für alle, die dem Verzehr von Käfern und Co. bislang eher ablehnend gegenüberstehen, könnte vielleicht seine persönliche Empfehlung etwas sein: „Ich mag Heuschrecken ganz gerne, weil sie ein nussiges Aroma haben“ – Und was ist schon gegen Nüsse einzuwenden?