Wettlauf als Metapher für das Leben

Foto: akunamatata, CC BY-ND 2.0
In „Läuferin“ („Runner“) wird man nicht erfahren, wie man für einen Ultramarathon trainieren oder welchen Proviant man zu einem Wettlauf mitbringen soll. Es handelt sich nicht um Lehrbuch über das Joggen, sondern um die Memoiren der Läuferin Lizzy Hawker: über die Natur, die Meditation während der Bewegung und über Demut.

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Lizzy Hawker 2009 auf dem Trail des Cerces, Foto: akunamatata, CC BY-ND 2.0

„‚Fang mit dem Anfang an‘, sprach der König mit großem Ernst, ‚und lies weiter bis zum Ende: dann hör auf.‘“

Lewis Carroll: Alice im Wunderland

Lizzy Hawker ist eine Läuferin wie sie im Buche steht: sie läuft Ultramarathons, bei zwei davon ist sie Rekordhalterin (die Strecke vom Mount Everest nach Kathmandu lief sie in 63 Stunden und 8 Minuten, innerhalb von 24 Stunden lief sie 247,07 km). Laufen bedeutet für sie aber nicht nur Wettkampf und Gewinn – in ihrem Buch Läuferin (Runner) beschreibt sie das Laufen als Ausbrechen aus der Komfortzone.

Das Schlagwort „out of your comfort zone“ ist heute schon ein Klischee, wenn aber der dahinter stehende Gedanke jemandem dabei hilft, sich aufzuraffen und sich selbst mit einer Aktivität zu überraschen, warum nicht? Bei Lizzy nahm dies jedoch extreme Züge: das Laufen wurde für sie zur Komfortzone und wenn sie nicht laufen konnte, war es schwierig für sie, die zu sein, die nicht läuft. Diese und andere Kehrseiten aus ihrem Leben reflektiert sie offen in ihrem Buch.

In den Bergen öffnet sich die Welt

Alles begann ganz einfach in der Gebirgslandschaft, in der Lizzy gern Zeit verbrachte. Mit ihren Eltern besuchte sie als Sechsjährige zum ersten Mal die Alpen. Als die Familie nach Hause fuhr und Lizzy das Matterhorn ein letztes Mal sah, weinte sie. Damals ahnte sie nicht, dass sie es später einmal Stein für Stein kennen würde und es für immer im Herzen behalten. Einige Jahre später gewinnt sie sogar das Rennen rund um den Mont Blanc (155 km während der insgesamt 8500 m Höhenunterschied überwunden werden) und sie selbst gründete einen Ultramarathon rund um den Monte Rosa (150 km) an der schweizerisch-italienischen Grenze.

Lizzy hatte Naturwissenschaften in Cambridge studiert und eine Dissertation im Fach Meereskunde geschrieben, für die sie mit einer Forschungsgruppe in die Antarktis gefahren war. Das Leben als Wissenschaftlerin, eingesperrt in ein Büro mit gelegentlichen Reisen in arktische Landschaften, lehrte sie vieles, doch im Laufe der Zeit stellte sie fest, dass das nicht das Richtige für sie ist und sie wurde zu einer Halbnomadin: zur Zeit lehrt sie Trekking-Laufen in einer Schule in den Alpen, arbeitet mit der Firma The North Face zusammen und schreibt über das Laufen. Die Liebhaberin der Natur und Ökologin in sich verleugnet sie dabei nicht: sie behält Respekt gegenüber der Natur und den tiefen Bindungen zu den Bergen und zeigt sich bescheiden, sie wendet sich ab von den meisten Outdoor-Ideen und ist sich bewusst, dass wir nur ein bedeutungsloses Teilchen auf dieser riesigen Welt sind, sie hält Abstand und Distanz.

Den Elementen ausgesetzt

Einmal kam ihr die Idee, zu laufen anstatt zu gehen… und seitdem hat sie nicht aufgehört. Wichtig ist für sie die gewöhnliche Bewegung, nicht das Hin- und Herlaufen mit einer Stoppuhr von A nach B. Lizzy war nie eine klassische Wettkämpferin, die von einem Sportverein entsandt oder von einem Trainer gequält wurde, sie hatte nicht einmal richtig gelernt, wie man das macht – dass man ein Unterstützungsteam, Proviant und Ausrüstung braucht. Ihr Handeln ist intuitiv und verbunden mit der Suche nach einer Antwort. Das erste Rennen lief sie nur deshalb, weil sie es einmal ausprobieren wollte.

Lizzy denkt an einen ihrer Wettbewerbe zurück – die Bob Graham Round in Schottland:

Woran ich mich heute erinnere? An eine tolle Gesellschaft und interessante Gespräche; das Gefühl der Stärke, der Freiheit beim Laufen; an unzählige Tassen süßen Tee; Nebel und verdeckte Aussichten; an die wunderbare Großzügigkeit der Leiter; an erstaunte Touristen; Flapjacks; strömenden Regen; wie ich zitterte; wie ich mir den Weg durch Farne gebahnt habe; wie ich heiße Tomatensuppe geschlürft habe; wie angenehm es war, trockene Kleidung anzuziehen; an die Dämmerung; wie ich im Dunkeln gelaufen bin; an aufmunternde Begrüßungen; an von Taschenlampen erleuchtete Gesichter; an Ermunterungen; wie ich den Elementen ausgesetzt war; als ich nass bis auf die Haut war; an starken Wind; an graue und düstere Morgen; Müdigkeit; das Gefühl, dass ich mich weiter plagen muss; an das Erstaunen, dass ich nach so vielen Stunden immer noch laufe; an die Dankbarkeit; an das Gefühl, dass ich am Leben bin.

Die Sehnsucht, Dinge anders zu machen

© Vydavatelství Mladá frontaDas Buch hat drei Teile: Der Weg der Entdeckung, Der Weg der Erforschung und Der Weg der Neuentdeckung und Erkenntnis. Im Text wechselt sich die tagebuchähnliche, selbstreflexive Ebene mit der biografischen Ebene ab, aber leider unterscheiden sich die beiden kaum voneinander und diese Idee ging etwas ins Leere. Lizzy beschreibt den Verlauf ihrer Karriere und im zweiten Teil verfängt sie sich stellenweise im Reflektieren von Wettläufen. Die starke Seite des Buches ergibt sich daraus, dass aus jedem Ereignis etwas resultiert und wir erfahren immer genau, welche innere Spannung Lizzy dazu führte, dies oder jenes zu tun. Während des Schreibens wird ihre Geschichte zu einem Gespräch zwischen „Kopf, Herz und Worten“. Sie verwendet die Du-Form, das ist zwar ungewöhnlich, aber nicht störend.

Das, was zu jedem Buch über das Joggen gehört, also eine Ode an den eisernen Willen, Ausdauer, Hartnäckigkeit und die Suche nach einem Gefühl von Freiheit in der wilden Natur, das finden wir selbstverständlich auch hier, allerdings auf eine etwas andere Art: Lizzy ist keine „Iron Woman“, sondern ein Mensch, der die Berge liebt und gern dort läuft. Zu ihrem Erfolg brachten sie vor allem die Kombination von Eigenschaften wie Hartnäckigkeit, extreme Ausdauer, unglaubliche Zielstrebigkeit und vor allem eine natürliche, keineswegs rebellische Sehnsucht, die Dinge anders zu machen. Obwohl Lizzy im Buch mehrmals hervorhebt, dass sie nie deshalb Rennen lief, um zu gewinnen, lässt sich eine deutliche Lust am Wettbewerb nicht abstreiten. An einigen Stellen beschreibt sie, dass sie sich während des Wettrennens für die Ergebnisse von anderen Teilnehmern interessierte und sie bezwingen wollte, was etwas ganz Natürliches ist.

Der Wettkampf als Metapher für das Leben

In der zweiten Hälfte des Buches, wenn man als Leser schon tausende Meilen mit Lizzy verbracht und einige Medaillen gewonnen hat, beginnt man sich, zu fragen, wo hier der Haken liegt. Dieses Mädchen läuft Wettrennen für Wettrennen und nichts hält sie, aber so ist das normalerweise doch weder im Leben noch in guten Büchern. Man sucht nach einem Konflikt. Der kommt im dritten Teil des Buches, wo es weniger um das Laufen geht als um die Sehnsucht nach „der, die läuft“. Lizzy wird nämlich von einem Beinbruch nach dem anderen getroffen – aus Ermüdung, die Beschwerden häufen sich und sie darf monatelang nicht laufen. Sie verliert ihre Kondition und es entstehen Trübsal und Zweifel. Sie sehnt sich nach ihrer Komfortzone, die sie nur beim Laufen in der Natur erlebt.

Eine weitere Herausforderung für Lizzy war die Suche nach sich selbst – ja, durch Wettkämpfe, die für sie eine Metapher des Lebens darstellen und die sie in Hülle und Fülle hinter sich hat – Einsamkeit, Nachdenken, Stille. Im Laufe der Zeit wurde sie sich jedoch bewusst, dass das Laufen allgemein etwas Gemeinschaftliches ist, auch wenn man beim Laufen allein ist, denn man erkennt sich selbst durch die Interaktion mit anderen. Sie begreift, dass die Abhängigkeit eines Menschen vom anderen oft von genauso großem Nutzen ist wie eine tiefe Beschäftigung mit sich selbst und eine maximale Konzentration auf die Leistung:

Ein weiteres Dilemma – ich bekomme eine Dose Bier in die Hand gedrückt, von einem genauso durchnässten, schmutzigen und müde aussehenden Mann mit einem Lächeln, das so breit ist wie die Kurve ins Ziel. Mit diesen Jungs habe ich die letzten Stunden um den Platz gekämpft. Sie haben mich beim Hinunterlaufen zurückgelassen, dann habe ich sie beim Aufstieg eingeholt. So ging es lange weiter. Aber sie haben auf mich gewartet. Sie haben gewartet, ob ich als erste Frau ins Ziel komme. Wir haben ein paar Worte gewechselt, haben uns nicht mal vorgestellt. Wir haben nämlich etwas ziemlich Einzigartiges geteilt. Wenn man gemeinsam die letzte Phase eines solchen Wettkampfs erlebt, wenn man schon fast am Ende seiner Kräfte ist, entsteht eine Bindung zwischen fremden Menschen, die sich nur schwer wiederholen lässt. Es bedeutet, einen einzigartigen Moment zu teilen. Einen Moment, der uns gehört. Jetzt. Und nur jetzt. Ich strecke die Hand nach dem Bier aus, nicht ganz überzeugt, dass mein Magen darauf vorbereitet ist, aber ich habe Lust, es zu versuchen und auch diesen Moment mit ihnen zu genießen.



Im Verlag Mladá fronta, betreut durch Tomáš Dimter, erscheinen immer wieder beachtenswerte Bücher über das Laufen, die auch Leute lesen, die nicht laufen – Faule, wie ich zum Beispiel. Das Laufen steht in diesen Büchern nur an zweiter Stelle, es geht hier vor allem um das Leben und um die Eigensinnigkeit als solche. Zu nennen wären etwa Lauf oder stirb von Kilian Jornet, Ein Leben ohne Grenzen von Chrissie Wellington oder Born to Run von Christopher McDoguell.

Tereza Semotamová
Übersetzung: Julia Miesenböck

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Mai 2016

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