© Hanser Literaturverlage, Berlin, 2020
Im Spätwinter-Vorfrühling des Jahres 1911 ist einer der größten und berühmtesten Musiker des 20. Jahrhunderts, der Komponist und Dirigent Gustav Mahler, an Bord des Dampfers Amerika unterwegs nach Hause, auf der Überfahrt von New York nach Europa. Er spürt und weiß, dass er unheilbar krank ist – aufkommende Erinnerungsbilder mischen sich bei ihm mit fiebrigen Traumvisionen. Einen beträchtlichen Teil der Reise verbringt er, in Wolldecken gehüllt, in einem einigermaßen windgeschützten Winkel an Deck. Der Einzige, mit dem er in der „Jetztzeit“ des Romans einige Worte wechselt, ist der Schiffsjunge, der praktisch nur zu seinen Diensten abgeordnet ist. Der im Roman durchweg namenlos bleibende Jugendliche ist sogar für die Übermittlung der Nachrichten zwischen den Eheleuten Alma und Gustav zuständig.
Der Ozean ist still und geheimnisvoll. Außer der Abfolge der Tageszeiten ist das gelegentliche Erscheinen eines großen weißen Vogels das einzige äußere Ereignis – aber auch hier ist nicht immer gewiss, ob er ein leibhaftiges Lebewesen oder eine Vision darstellt. Fieberwellen plagen den geschwächten Mahler, er spürt das nahende Ende; es ist nur natürlich, dass sich Szenen aus dem Film seines Lebens vor ihm abspielen. Etwa wie Tolstois sterbender Iwan Iljitsch mit seinem Diener, ist auch der Komponist allein mit seinen Schmerzen, mit seiner Hilflosigkeit, mit seinen Erinnerungen und mit dem auf stille Art einfühlsamen, ihn aufmerksam unterstützenden Schiffsjungen.
Das stark kammerstückartige, in schnörkelloser Sprache geschriebene Buch lässt sich gut lesen und wartet, was eine Handlung betrifft, nur mit den aus der Vergangenheit heraufbeschworenen Szenen auf. Die mehr oder minder chronologisch angeordneten, zugleich aber auch entsprechend den kapriziösen Launen der Erinnerung (und teilweise des Delirierens) wachgerufenen Ereignisse und Episoden aus Mahlers Leben wechseln sich mit Abschnitten ab, die zwar ebenfalls in der dritten Person Singular verfasst sind, ihrem Wesen und ihrer Funktion nach aber als innere Monologe verstanden werden können.
Wir kannten Gustav Mahler als einen der berühmtesten und anerkanntesten Musiker seiner Zeit – er war von kleiner Statur, jüdischer Herkunft, durfte eine der meistumworbenen und einnehmendsten Damen der damaligen Wiener Gesellschaft (die neunzehn Jahre jüngere Alma) seine Frau nennen, und er konnte die Aufführungskonventionen des Musiktheaters in gleich zwei weltberühmten Opernhäusern geradezu revolutionsartig reformieren: in der Wiener Hofoper und in der New Yorker Metropolitan Opera (man sollte aber natürlich auch das wesentlich kürzere „Intermezzo“ zwischen 1888 und 1891 nicht unerwähnt lassen, als Mahler in Budapest Operndirektor war). Dank Seethalers Roman haben wir nunmehr eine mögliche und als solche glaubhaft wirkende Version auch davon, wie Mahler selbst all das erlebt – beziehungsweise wachgerufen – haben könnte; als Mann, als Vater, als Musiker.
Hanser Literaturverlage