Valdur Mikita
Heimischer Brunnen und Weltmeer
Seit Urzeiten hat sich das Leben der finnougrischen Völker am Rande von Sümpfen und Mooren abgespielt, in einer ebenen und feuchten Landschaft, die bisweilen von hübschen Kiefernwaldinseln aufgelockert wird. Die Mehrheit der Menschheit lebt in trockenen Berggebieten, bemoostes Grün gehört bei einem Großteil der Völker nicht ins Kulturbild. Während sich die meisten Völker nach feuchter Ackererde und fließendem Wasser sehnen, haben die Esten umgekehrt immer nach einem Stück trockenen Bodens verlangt, meistens eben gerade nach diesem Kiefernwald mit seinem weißen Moos, wo sich die Seele ganz von selbst in die Lüfte erhebt.
Die Finnougrier sind ein Wald- und Wasservolk, was sich deutlich in den estnischen und finnischen Nationalepen widerspiegelt: „Kalevipoeg“ und „Kalevala“ sind Wald- und Wasserepen in einem. Deswegen scheint der estnische Genius Loci zwei Heimstätten zu haben – den Wald und das Meer. Wenn der Mensch am Uferstreifen oder am Waldrand steht, ist es, als ob ihn etwas durchzuckt. Jene magischen Randlinien machen Teil der estnischen Seelenlandschaften aus. Vielleicht ist es gerade das, was die Urtümlichkeit Estlands am reinsten ausdrückt: die Möglichkeit, mit seinen Vorfahren ähnliche Landschaftsansichten sowie eine gleichartige Meeres- und Waldsehnsucht zu teilen. Sogar jetzt, da der größere Teil des Volkes schon lange in der Stadt lebt, lässt sich dieses Stadtvolk mit unumstößlicher Sicherheit immer noch in ein Waldvolk und ein Meervolk aufteilen. Die Südesten zieht es mehr zum Wald, die Nordesten mehr zum Meer – obwohl es natürlich seltene Ausnahmen gibt. Der eine braucht zur Erbauung seiner Seele den Wald, das leise Murmeln der Flüsse und Waldweiher, den anderen berücken das Meer und im Wind rauschende Strandkiefern.
Estland ist ein Staat am Meer. Die Gesamtlänge der Küstenlinie beträgt einschließlich der Inseln und Schären annähernd 4.000 Kilometer. Während die estnische Landfläche 45.000 Quadratkilometer umfasst, kommen noch einmal 25.000 Quadratkilometer an Meeresfläche hinzu. Die inselreiche Westküste ist zu einem der Symbole Estlands geworden, hier wurde jahrtausendelang eine maritime Kultur gepflegt. Estland hat über 2.000 Inseln in der Ostsee, hinzu kommen noch rund hundert Inseln in den Binnengewässern. Gerade die Inseln sind im Laufe der Jahrhunderte durch eigenständige kleine Kulturen bereichert worden, wozu die Kulturen der schwedischen Freibauern und der russischen Altgläubigen gehören. 1934 wurden auf der Insel Ruhnu 234 Schweden und fünf Esten als Einwohner registriert. Auf der Insel Piirissaar im Peipussee wohnten damals rund tausend Altgläubige und ein paar Hundert Esten. So haben die West- und Ostgrenze Estlands im Laufe der Jahrhunderte für Estland eigenartige Weltränder verkörpert, wo eine andere Kultur und Denkungsart herrschte.
Wenn man sich von der Küste Richtung Binnenland bewegt, eröffnet sich einem ein ganz anderes Estland – ein Reich von Flüssen und Seen, Sümpfen und Mooren. Ungefähr ein Zehntel Estlands entfallen auf Flüsse und Seen – auf Sümpfe aber sage und schreibe ein Fünftel. Uralte Flußlandschaften sind auf der Welt nur noch selten zu finden, da viele Flüsse begradigt oder aufgestaut und den Bedürfnissen der Menschheit angepasst sind. In Estland sind sie zum Großteil immer noch so wie vor Tausenden von Jahren. Die Ufer kleinerer Waldbäche sind vielleicht die urtümlichsten Orte Estlands: Am Flussufer umgestürzte Baumstämme liegen kreuz und quer auf den steilen Hängen, das Gras reicht einem bis zum Hals und die wogenden Auwiesen erinnern Freunde von Abenteuergeschichten an die Afrikareisen des schottischen Entdeckers David Livingstone.
Als Grenze zwischen Süd- und Nordestland kann man den uralten Emajõgi, den Mutterfluss, betrachten. In Urzeiten strömte ein großer Fluss durch Estland, der das Land zweiteilte. Das war der Ur-Emajõgi, der früher im Gegensatz zum heutigen Emajõgi andersherum strömte – er begann am Peipussee und mündete über den Võrtssee in die Bucht von Pärnu. Noch heutzutage kann das Frühjahrshochwasser den Emajõgi in die andere Richtung fließen lassen. Die sumpfigen Ufer des Flusses haben jahrhundertelang eine Überquerung des Flusses erschwert. Einer der wenigen Orte, wo eine etwas trockenere Landzunge an beiden Seiten direkt ans Ufer reichte, befand sich an der Stelle des heutigen Tartu. Im Herzen von Tartu befindet sich die, soweit bekannt, älteste Flussüberquerungsstelle, um die herum im Laufe der Zeit eben die uralte Burg Tarbatu entstanden ist. Alle unsere alten Hansestädte am Ufer des Emajõgi – Tartu, Viljandi und Pärnu – sind auf ihre Weise Kinder des Ur-Emajõgi.
Flüsse und Seen bringen selbstverständlich auch viele leidenschaftliche Fischer hervor. Angeln ist in Estland eine Art Volkssport geworden. Eigentlich haben die Esten nur drei nationale Sportarten, und alle sind auf ihre Weise mit der Wasserwelt verbunden: Angeln, Pilzesammeln und Skilanglauf. Pilze brauchen bekanntlich Regen und Skilaufen Schnee. Aus Sicht der Angler bringt eine Anekdote über das Akademiemitglied Harri Moora das Wesen der Finnougrier am besten auf den Punkt. Als der Professor 1968 starb, hätte man dem Brauch entsprechend alle seine Orden an seinem Sarg ausstellen müssen. Das erwies sich aber aus einem recht ungewöhnlichen Grunde als unmöglich – nämlich stellte sich heraus, dass Harri Moora als leidenschaftlicher Angler alle seine Orden im Laufe der Zeit ganz einfach als Blinker verschlissen hatte. Ein Mensch mit einem komplizierten Lebensschicksal, der an einer schummrigen Flussbiegung mit einem Leninorden angelt – so könnte man das Schicksal eines Volkes kurz zusammenfassen.
In früheren Zeiten haben sich die Esten mit einem noch exotischeren Hobby beschäftigt. Historische Quellen belegen, dass unsere an den Flüssen wohnenden Vorfahren manchmal auch leidenschaftlichen Perlenfischer waren. Ein Widerhall aus jenen märchenhaften Zeiten wird in August Gailits Roman „Toomas Nipernaadi“[1] zu Leben erweckt. Sicherlich hatte der Schriftsteller in seiner Kindheit noch Geschichten von Perlenfischern gehört, die vor langer Zeit den Menschen in Livland den Kopf verdreht hatten. Obwohl es sogar noch Anfang des 20. Jahrhunderts vereinzelte Perlenfischer in der Gegend der Livländischen Aa und des Mustjõgi gab, liegen die Glanzzeiten der Perlenfischerei doch Jahrhunderte zurück. Vor ein paar hundert Jahren war Estland wegen seiner Perlenfundorte dermaßen berühmt, dass sowohl der schwedische König Karl XI. wie auch die russische Zarin Katharina die Große in ihnen eine Einkommensquelle sahen. In der schwedischen Zeit waren in den südestnischen Flüssen sogar königliche Perlenfischer aktiv, und den Esten war streng verboten, in den Perlenflüssen zu baden. Das Perlensuchen soll in Urzeiten auch eine der Lieblingsbeschäftigungen der Mönche vom Kloster in Vastseliina gewesen sein.
Es ist merkwürdig zu konstatieren, dass das Waldvolk der Esten im 21. Jahrhundert allmählich zu einem Sumpfvolk wird. Der überall vordringende Kahlschlag hat die estnischen Landschaften in kurzer Zeit bis zur Unkenntlichkeit verändert. Den Wald kann man in Estland selbst beim besten Willen nicht mehr als Symbol einer urtümlichen Natur ansehen. Moorlandschaften mit Krüppelkiefern halten dem Druck des Menschen merklich besser stand.
Zum Schluss möchte ich mich noch vor einem weiteren wesentlichen Merkmal der estnischen Kultur verbeugen. Das ist der Brunnen. Ein Großteil der Esten hat immer noch das Glück, wertvolles Grundwasser trinken zu können, das lange in der Erde gelagert hat und symbolisch mit einem guten Wein verglichen werden kann. Auf den heimischen Höfen in Estland trifft man häufig ein uraltes architektonisches Element an, das sich mitten auf dem Hof befindet und einen natürlichen Altar für die Quelle des Lebens verkörpert. Wenn man Wasser nach oben wuchtet, muss man sich notgedrungen verbeugen – anders geht es nicht.
Aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt.
[1]1928 erschienener estnischer Schelmenroman, dt. 1931 unter dem Titel „Nippernaht und die Jahreszeiten“ (Anmerkung des Übersetzers)
[2]Fünfteiliger Roman, erschienen 1926–1933, dt. 1938–1941 unter verschiedenen Titeln, der erste Teil trägt den Titel „Wargamäe“ (Anmerkung des Übersetzers)