Future Perfect
Am Anfang war die Grammatik
Ein junger ägyptischer Lehrer unterrichtet Schüler kostenlos in Arabisch. So will er die arabische Hochsprache retten.
Der Dichter Hafez Ibrahim ließ zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem berühmten Gedicht „Die arabische Sprache lamentiert ihr Schicksal im Kreise ihres Volkes“ das Arabische selbst zu Wort kommen, um die Unfähigkeit seiner Sprecher zu beklagen. Auch ein Jahrhundert später ist die Kritik nicht verklungen oder das Problem gelöst. Im Gegenteil haben heute sogar viele Universitätsstudenten in Ägypten nur mangelhafte Arabischkenntnisse und beherrschen die Grammatik ihrer eigenen Muttersprache nicht sehr gut. Das liegt einerseits an der Qualität des Schulunterrichts, in dem die grammatikalisch anspruchsvolle Sprache nicht ausreichend vermittelt wird, und andererseits an mangelnder Motivation der Lernenden selbst.
Samir Refaat ist 25 Jahre alt und Arabischlehrer aus dem Zentrum Sandoubs in Mansoura im Nil-Delta; er stellt sich dieser Herausforderung und hat eine Initiative ins Leben gerufen, um Schüler und Studierende in den Grundlagen der arabischen Sprache zu unterrichten. Seine Initiative nennt Refaat „al-Muassis“ (dt. der Grundlagenleger).
Refaat begann 2011, kurz nach der Revolution des 25. Januar, Schülerinnen und Schüler in den Grundlagen der arabischen Sprache zu unterrichten. Er formte kleine Gruppen und unterrichtete die Schüler zunächst sechs Stunden bei sich in seinem Haus kostenlos in arabischer Grammatik. Dabei reichten ihm zu Beginn die einfachsten Hilfsmittel wie Fotokopien mit leichten Erklärungen zur Grammatik.
Besser als die Schule
„Ich gehöre weder einer politischen noch einer sozialen Partei an“, sagt Refaat. Er wolle nur Schüler unterstützen und einen Beitrag zur Verbesserung des Bildungsniveaus in Ägypten leisten. Gleichzeitig habe die Initiative aber auch eine positive Wirkung auf ihn selbst gehabt, denn bei der Arbeit hätte er wichtige theoretische und praktische Erfahrungen gesammelt, wie man arabische Grammatik am besten vermittelt. Von der Verfeinerung seiner Unterrichtsmethoden profitieren dann natürlich auch seine Schüler und Schülerinnen.
Nahed Muhammed, eine Schülerin, die an Refaats Projekt teilnimmt, hat über das soziale Netzwerk Facebook von al-Muassis erfahren und an mehreren Kursen zu Grammatik, Schreiben, Lesen und Ausdruck teilgenommen. Nahed sagt: „Ich habe in den Kursen bei Refaat mehr gelernt als in der Schule, weil er sich bemüht, alles zu erklären.“ Dem stimmt auch Salma Khalid zu, eine weitere seiner Schülerinnen. Staatliche ägyptische Schulen legen häufig mehr Wert auf Auswendiglernen als auf Verstehen und kritisches Denken.
Das kostenlose Angebot und seine Herausforderungen
Zu Beginn saßen im Unterricht von al-Muassis nur zwei Schülerinnen, doch bald lernten 20 Schüler bei Refaat arabische Grammatik. Der Gründer der Initiative erreicht mit seinem Angebot mittlerweile nicht nur Menschen in Mansoura. Über seine Facebook-Seite, auf der Refaat auch Grammatikerklärungen in Fotos und Videos postet, erfahren Kinder aus anderen Teilen Ägyptens ebenfalls von der Initiative.
Nicht nur die Schülerzahlen sind gestiegen, Samir Refaat hat auch sein Kursangebot erweitert. Seit kurzem bietet er Kurse zur Verbesserung von Ausdrucks- und Schreibfähigkeiten an. Außerdem hat er ein Grammatikbuch mit dem Titel A bis Z veröffentlicht. Das Werk ist bereits in zwei Auflagen erschienen, und die Herausgabe der dritten Druckauflage sowie einer digitalen Kopie als PDF sind in Vorbereitung.
Refaat besteht darauf, seine Kurse kostenlos anzubieten: „Schüler haben das Recht, zu lernen. Manche haben mir eine Bezahlung angeboten, aber ich habe abgelehnt.“ Er sieht sein Unterrichtsangebot als Gegenentwurf zum Privatunterricht, der erbarmungslos die Mittel ohnehin schon armer Familien aufzehre.
Für viele Eltern in Ägypten ist die Bildung ihrer Kinder zu einer wahren Krise geworden: Entweder sie schicken ihren Nachwuchs weiter in staatliche Schulen, wo die Unterrichtsqualität schlecht ist, oder sie zahlen die steigenden Kosten für Privatstunden. Dies zeigt, wie wichtig Projekte wie al-Muassis sind. Mona Saleh, Hausfrau, wünscht sich mehr solcher Initiativen, denn es gäbe Lehrer, die die schlechte Unterrichtssituation an den staatlichen Schulen ausnutzten, um die Preise für Privatunterricht hochzutreiben. Alaa Mohammed ergänzt: „[‚Al-Muassis‘] ist eine Initiative, die angesichts ihrer positiven Wirkung auf die Schüler Förderung, Respekt und Unterstützung durch die Eltern verdient.“
Mit seiner Idee hat Refaat einige seiner Kollegen im Bildungsbereich beeindruckt und sogar als Freiwillige gewonnen, die nun selbst unterrichten. Der „al-Muassis“-Gründer erzählt, wie einige Lehrer ihn bei der Betreuung und beim Unterricht unterstützen, „und zwar auf freiwilliger Basis. Andere Kollegen von der Fakultät für Bildung haben mir bei der Überarbeitung der Lehrpläne und mit meinen Büchern, die ich für den Grammatikunterricht entwickelt und geschrieben habe, geholfen.“
Viele Initiativen – ein Ziel
Die hohe Zahl Analphabeten ist eines der größten Probleme Ägyptens und steht dem Fortschritt des Landes im Weg. Statistiken aus dem Jahr 2006 zufolge beträgt der Anteil der Bevölkerung, der nicht Lesen und Schreiben kann, etwa 30 Prozent. Daneben gibt es den sogenannten „Analphabetismus der Gebildeten“, also derjenigen, die das Bildungssystem zwar durchlaufen haben, aber trotzdem nicht richtig Lesen und Schreiben können.
In ländlichen Gebieten, in denen die Armut wächst und Eltern die Schulkosten nicht leicht bezahlen können, scheint die Situation noch ernster. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung von Projekten wie „al-Muassis“ sehr deutlich. Während Refaat sich mit seinem Engagement auf Mansoura und umliegende Städte und vor allem auf den Arabischunterricht konzentriert, ist die Zahl der Bildungsinitiativen mit diesem und anderen Schwerpunkten in Ägypten gestiegen.
Die Initiative „Masr el-Kheir“ (dt. das gute Ägypten) bekämpft den Analphabetismus in verschiedenen Gouvernements und fördert dabei vor allem Frauen in Oberägypten. Unter ägyptischen Frauen beträgt die Analphabetenrate über 70 Prozent und die Schulabbruchsrate ist hoch . „Masr el-Kheir“ gibt an, innerhalb von sechs Monaten bereits 52.000 Personen das Lesen und Schreiben beigebracht und 4.000 jungen Männern und Frauen bei der Arbeitsplatzsuche geholfen zu haben .
Auf der anderen Seite legt die Initiative „Ilm bi-l-Qalam“ (dt. Lernen mit Stift), die zur wohltätigen Vereinigung „Qabas min an-Noor“ (dt. Lichtbündel) gehört, ihren Schwerpunkt darauf, Grundschülern Lesen und Schreiben beizubringen, um den „Analphabetismus der Gebildeten“ in Dörfern und Slums zu senken. Den Organisatoren zufolge konnte sie bereits 15.000 Schülern im Gouvernement Qalyubiyya helfen .
Vier Jahre, 800 Schüler
In den vier Jahren, die die al-Muassis-Initiative nun bereits besteht, konnte Refaat vielen Schülern bei der Verbesserung ihrer arabischen Sprachkenntnisse helfen. In Daqahliyya und anderen Gouvernements hat er mehr als 800 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Dabei ist er auch persönlich in die Schulen gegangen, um mit diesen zusammenzuarbeiten. In Sousa, einem Dorf nahe der Stadt Nabaroh, die zu Mansoura gehört, testete er die Schüler beispielsweise jede Woche, um ihr Arabischniveau zu bestimmen, die Klassen attraktiver zu gestalten und sehr gute Schüler mit Urkunden auszuzeichnen. Auf diese Weise, so Refaat, erlangten die Schüler dieser staatlichen Schule im Arabischen das gleiche Niveau wie Schüler an Privatschulen.
Der al-Muassis-Gründer wünscht sich, dass sich die staatlichen Schulen besser um ihre Schüler kümmern und das Niveau der Privatschulen erreichen. Außerdem hofft er, seine Initiative ausbauen und sich mit anderen Initiativen zusammenschließen zu können, um in Zukunft noch mehr Schülern Wissen richtig vermitteln zu können. Er sagt: „Bildung ist ein in Artikel 27 der Verfassung zugeschriebenes Recht, und wir helfen den Schülern nur, zu ihrem Recht zu kommen.“