Politisches Theater
Unruhe und Unbehagen – Politisches Theater als agonistisches Spielfeld
So sehr die Zeit, die wir gerade durchleben, aus den Fugen scheint, so schwer tut sich ausgerechnet das Theater, das in der Vergangenheit oft als „die“ politische Kunst per se galt, seinen Platz zu finden.
Entweder zweifelt Theater an der eigenen gesellschaftlichen Relevanz oder es delegiert sie vor allem an konkretes politisches – aber nicht unbedingt künstlerisches – Handeln. Oder aber es greift auf alte ästhetische Mittel zurück, die sich im Wesentlichen auf das frontale, kritische Darstellen von Missständen beschränken, aber keine angemessene – nämlich selbst politische – Form dafür finden.
Dabei gibt es – nach einer starken Periode meist narrativen Theaters der 1970er- und 1980er-Jahre, die von postdramatischen Formen gefolgt wurde, die das Medium und seine Ästhetik selbst in den Mittelpunkt stellten – durchaus wieder den starken Wunsch nach einem politischen Theater. Einem Theater, das nicht nur Zugriff auf wichtige gesellschaftliche Themen findet, sondern selbst politischer Raum, öffentliche Sphäre ist. Dafür gibt es kein gemeinsames Kleines Organon für das Theater (Bertolt Brecht, 1948) mehr, dem man folgen könnte. Wir befinden uns in einer Periode des Ausprobierens, des Suchens – als Künstler wie als Publikum. Aber es gibt genügend künstlerische Ansätze, die das Potenzial politischen Theaters wieder deutlich machen.
Partizipation
Partizipation ist ein Wort, das in unserem All-inclusive-Kapitalismus nahezu nutzlos geworden zu sein scheint. Ein Beruhigungsmittel, das als Nebenwirkung die Verantwortung für das, was passiert, an die Bürger delegiert, die den Ausgang des Geschehens nicht beeinflussen können. Das gleiche gilt für viel sogenanntes Mitmachtheater, das allzu oft lediglich eine solche Placebo-Beteiligung imitiert und das Publikum zwingt, sich in einem durchschaubaren Setup zu engagieren, in dem alle Wahlmöglichkeiten vorgeschrieben sind: Passivität verkleidet als Aktivität.Gintersdorfer/ Klaßen „LOGOBI 05“ (Youtube)
Aber so problematisch der Begriff geworden ist, so sehr brauchen wir dennoch ein Theater der Teilhabe, das sich mitten in dieses Dilemma begibt: Nicht nur um falsche Partizipation zu vermeiden, sondern sich gleichzeitig die Idee von echter Teilhabe wieder anzueignen. Eine Teilhabe, die – in Politik und Kunst – ihr radikales Potenzial entfalten kann.
Wirkliche Partizipation, das bedeutet, Verantwortung und Macht abzugeben. Bertolt Brechts Lehrstücke sollten vom Publikum – der Arbeiterklasse – selbst aufgeführt werden. Der brasilianische Theatermacher Augusto Boal folgte dieser Idee nicht nur in seinem Theater der Unterdrückten, sondern übergab sogar die Verantwortung dafür, wie die Performance sich entwickelt, an die „spect-actors“, also Zuschauer, die während der Aufführung zu Schauspielern werden.
Die holländische Theatermacherin Lotte van den Berg geht in ihrem Langzeitprojekt Building Conversation noch weiter in dem Bestreben, Theater auf seinen wesentlichen Kern zu reduzieren. Für sie ist Theater vor allem ein Ort der Kommunikation, des Zusammenkommens, eine Übereinkunft unter Beachtung von oft sehr unterschiedlichen Regeln. Building Conversation ist inspiriert von Gesprächstechniken aus aller Welt. Es gibt keine Schauspieler, kein Publikum, nur die Einladung, teilzunehmen – an einem Gespräch ohne Worte, beispielsweise, inspiriert von Inuit-Versammlungen – oder an einem Wechsel von Reflexion, Rückzug und Dialog, wie ihn Jesuiten praktizieren. Andere Gespräche finden völlig ohne Moderation, Thema oder Ziel statt – ein Verfahren, das der Quantenphysiker David Bohm entwickelt hat, um Muster kollektiven Denkens aufzuzeigen.
Agonistischer Pluralismus
Building Conversation ist unmittelbar beeinflusst von der belgischen Politiktheoretikerin Chantal Mouffe und ihrem Konzept des „agonistischen Pluralismus“, das sich gut eignet, die spezifischen Möglichkeiten heutigen politischen Theaters zu beschreiben. Während viele Philosophen – von Karl Marx bis Jürgen Habermas – an die Möglichkeit eines allgemeinen gesellschaftlichen Konsens glauben, warnt Mouffe davor, durch vermeintlichen Konsens unterschiedliche Meinungen nur zu unterdrücken, was am Ende zu feindlichem Antagonismus führe. Wenn wir wollen, „dass die Menschen frei sind, müssen wir immer die Möglichkeit erlauben, dass Konflikt auftaucht und eine Arena zur Verfügung stellen, wo Differenzen konfrontiert werden können,“ so Chantal Mouffe.Für mich liegt hier das besondere Potenzial von Theater: in einer Zeit, wo einerseits das Diktum „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ eine erstaunliche Renaissance hat, andererseits eine Logik des Konsenses alle demokratische Diskussion einschläfert, Arenen zu sein, in denen wir unsere Differenzen als Gegenspieler ausagieren können ohne sie befrieden zu müssen. Es ist ja kein Zufall, dass Agonismus – also das demokratische Ausagieren gegnerischer Positionen ohne in absolute Feindschaft zu verfallen – seinen Namen vom Theater entliehen hat, von agon, dem Wettstreit der Argumente in der griechischen Tragödie.
Milo Rau „Moskauer Prozesse“, Trailer (Youtube)
Während einige der Arbeiten des Schweizer Theatermachers Milo Rau eher einem gut gemachten Einfühlrealismus verpflichtet sind, kann man seine Inszenierungen politischer Gerichtsprozesse durchaus als ein solches agonistisches Theaters interpretieren: In den Moskauer Prozessen (2013) wurden drei traumatische Gerichtsverfahren gegen Russische Künstler und Kuratoren noch einmal vor den Richter gebracht – diesmal aber im Bereich der Kunst. Kuratoren, Künstler und Kritiker kämpften für künstlerische Freiheit auf der einen Seite, konservative Fernsehmoderatoren, orthodoxe Aktivisten und Priester auf der anderen. Drei Tage lang war das Sacharow-Zentrum in Moskau ein agonistisches Feld, in dem radikal unterschiedliche Meinungen auf eine Weise ausgetauscht wurden, die außerhalb nicht mehr möglich war.
Wo Theater so zum öffentlichen Raum wird, zeigt sich, was Partizipation im Theater bedeuten kann: Eine Teilhabe, die – wie die Kunsthistorikern Claire Bishop schreibt – eher ein Gefühl „der Unruhe und des Unbehagens als eines der Zugehörigkeit“ erzeugt. Denn, dass alle Beteiligten als „Subjekte unabhängigen Denkens“ behandelt werden, ist „die wesentliche Grundvoraussetzung für alles politische Handeln“.
Repräsentation
Jeder, der ins Theater kommt – als Schauspieler, Performer, spect-actor oder Zuschauer –, ist immer auch Teil einer größeren Community, markiert durch Hautfarbe, Geschlecht, Klasse, Körper, Beruf … Die Fragen, von denen gegenwärtig alle Demokratien verfolgt werden – wer wird wie, von wem, auf welche Weise und mit welchem Recht repräsentiert? –, spiegeln sich im Theater wider: Kann ein bürgerlicher Schauspieler einen Geflüchteten repräsentieren? Kann der Westen den globalen Süden repräsentieren? Kann ein Mann eine Frau repräsentieren? Ist die Repräsentation von Klischees – Gender, Rasse et cetera – de-maskierend oder lediglich die Wiederholung einer degradierenden Beleidigung?Die Wurzeln jüngster Diskussionen wie der sogenannten black-face-Debatte, gehen tiefer als das reine Hinterfragen von Recht und Befähigung weißer Schauspieler, schwarze Charaktere zu spielen. Die Herausforderungen sind komplex – politisch und künstlerisch. Sie werden kurzfristige Debatten um politische Korrektheit überdauern und das Theater für lange Zeit beschäftigen.
Postdramatische Theaterformen, wie jene von Gob Squad oder She She Pop, reagierten in den 1990er- und 2000er-Jahren mit dem Fokus auf das eigene Leben auf die Anmaßung, die Probleme aller Welt umstandslos im Theater repräsentieren zu wollen. Andere, wie Rimini Protokoll, brachten Vertreter anderer Lebenswelten als Personen selbst live auf die Bühne. Diese Ansätze mischten effektiv die Karten neu, aber in einer sich schnell verändernden Welt werden nun auch ihre Grenzen sichtbar: Sie laufen Gefahr, das eigene Wohnzimmer als die Welt zu betrachten oder den Respekt vor „dem Anderen“ ins Exotische kippen zu lassen.
Theatermacher wie Monika Gintersdorfer suchen deshalb nach immer neuen Formen, wie sie die Bühne mit ihren – in diesem Fall afrikanischen – Kollaborateuren tatsächlich teilen können, indem sie die Rolle als Regisseurin immer wieder neu definieren. Das Konzept der Chefferie – ein politisches Modell der Versammlung vieler gleichberechtigter Chefs aus vorkolonialen Zeiten, das bis heute existiert – gab nicht nur den Titel zu einer ihrer Arbeiten, sondern dient auch als Metapher der Zusammenarbeit.
Theater Hora „Disabled Theater“ | © Theater Hora, Foto: Michael Bause Im Gegensatz dazu scheint das Schweizer Theater Hora – eine der bekanntesten Kompanien von Schauspielern mit kognitiven Behinderungen – seinen Regisseuren noch immer klassische Außenpositionen einzuräumen. Auf den zweiten Blick aber wird klar, dass die Widerständigkeit der Performer, ihre eigenen starken, oft unberechenbaren Persönlichkeiten, dieses Arbeitsmodell permanent unterlaufen. Als Gastregisseur machte der französische Choreograf Jérôme Bel in Disabled Theater (2012) diese Position sehr klar: Einerseits wurden seine strikten Regieanweisungen während der Performance klar verkündet und unterstrichen die Hierarchie der Produktion. Andererseits erfüllten die Performer ihre Aufgaben wie immer sie selbst wollten – und zuweilen gar nicht.
Am Ende ist es im Theater wie in der Gesellschaft: Wenn wir wirklichen Pluralismus wollen, müssen jene, die unterrepräsentiert sind oder nur von anderen repräsentiert werden eine größere Rolle spielen, auf der Bühne ebenso wie dahinter und davor. Nur dann kann Theater tatsächlich ein Ort sein, in dem soziale Praktiken im Kleinen ausprobiert oder erfunden werden können. Dabei hilft, dass Theater die Widersprüche von Kunst und Politik nicht nur aushält, sondern von ihnen lebt: Hier ist immer alles gleichzeitig Repräsentation und Präsenz, wirklich und künstlich. Theater ist eine paradoxe Maschine, die erlaubt, uns selbst von außen zu beobachten während wir doch Teil der Performance sind. Seine Situationen und Praktiken sind symbolisch und eigentlich zugleich. Wirklich politisch ist Theater da, wo es diese Kraft nutzt.
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