Exilliteratur
Dichtertreffen in Ostende
Sommer 1936: Deutschsprachige Exilautoren verbringen in dem belgischen Nordseebad Ostende einige Wochen, bevor sie sich in alle Welt zerstreuen und das Inferno des Zweiten Weltkriegs hereinbricht. Ungewöhnliche Begegnungen – und Stoff für einen Bestseller.
Sie reisten viel und quer durch Europa, jene deutschsprachigen Literaten, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Zahllose Bücher haben ihre Zufluchtsorte gewürdigt. Neben Zürich, Amsterdam und London waren Paris, Marseille und Nizza häufige Anlaufstationen der Schriftsteller im Exil. Das Dorf Sanary-sur-Mer an der Côte d’Azur galt sogar als „Hauptstadt des Exils“.
Bis Volker Weidermann 2014 mit Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft einen Bestseller auf dem deutschen Buchmarkt landete. Der Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erinnert darin an ein Treffen prominenter Exilautoren: 1936, drei Jahre nach Hitlers Machtergreifung, verbrachten die deutschsprachigen Autoren Stefan Zweig, Joseph Roth, Egon Erwin Kisch, Irmgard Keun, Hermann Kesten, Ernst Toller und Arthur Koestler einige Wochen in Ostende, bevor sie sich in alle Welt zerstreuten.
Collage aus Imagination und Quellen
Wie schon der belgische Journalist Mark Schaevers, der 2001 – auf Flämisch – eine fast gleich betitelte Studie über das Dichtertreffen publizierte, erweckt auch Weidermann die lange schon toten Sommergäste nochmals zum Leben. Geradezu munter zu lesen ist seine Collage aus literarischer Imagination und Zitaten, die er aus Biografien, Briefen und Aufzeichnungen der Exilanten extrahierte: Nach wenigen Seiten der Lektüre meint man, den Disputen der Freunde über Deutschland und die Welt unmittelbar lauschen zu können.Wieso Ostende? Irmgard Keun, die noch Anfang der 1930er-Jahre in Deutschland hochgelobte Jungautorin, floh im April 1936 in den kleinen Ort. Sie wusste, dass man dort „billiger leben konnte als in Holland“, wie sie später in Bilder und Gedichte aus der Emigration schrieb. 31 Jahre alt war sie und, so witzelte sie in einem Brief an die Eltern, „die einzige Arierin“ im Kreis der Exilanten. Ihre zwei Frauenromane hatten Kurt Tucholsky 1932 zu jovialem Lob verführt: „eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an!“ Die Nationalsozialisten verboten ihre Bücher gleich 1933 als „volksschädlich“. Das verband die Kölnerin mit den männlichen Autoren, die Deutschland schon vor längerer Zeit verlassen hatten und nun anreisten, begierig auf Keuns pointierten Bericht aus einem Deutschland „voll berauschter Spießbürger, fischäugiger Gestapo-Mörder", voller „Aufmärsche, Parteitage und Heil-Jubel“.
Ostende – Zweigs Sehnsuchtsort
Wie der Schriftsteller und Journalist Hermann Kesten, einst Lektor im Kölner Kiepenheuer-Verlag, jetzt im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange und so mit allen vertriebenen Autoren bestens vertraut, verbrachte auch der Prager Journalist und Autor Egon Erwin Kisch seit Jahren seine Sommer in Ostende. Der ungebremst „rasende Reporter“, wie er nach einem seiner berühmtesten Bücher genannt wurde, war 1934 nach Paris emigriert. Die Ferien nutzte Kisch zum Schreiben eines Buches über seine Abenteuer in Australien. Zu den jüdischen Kommunisten gesellten sich der österreichisch-ungarische Schriftsteller Arthur Koestler, der alsbald als Kriegsreporter nach Spanien ging und später zum schärfsten Kritiker der Kommunisten werden sollte. Auch Willi Münzenberg, der einflussreiche Verleger der kommunistischen deutschen Presse während der Weimarer Republik, traf in Ostende ein.Für Stefan Zweig, den feinsinnigen, damals bereits berühmten Novellisten, war Ostende ein Sehnsuchtsort. Hier hatte er gebürtige Wiener 1914 eine inspirierende Sommerfrische verlebt, bevor ihn der Erste Weltkrieg jäh zur Abreise zwang. 1936 war er wieder da, in Begleitung seiner Sekretärin Lotte Altmann, die er bald darauf heiratete. Wien und Salzburg hatte er den Rücken gekehrt, in London ein Domizil bezogen. Dass er bis jetzt, da die „Arisierung“ des Insel-Verlags nicht mehr zu verhindern war, weiter in Deutschland publiziert hatte, machten ihm die Kollegen zum Vorwurf. Allen voran der österreichische Schriftsteller und Journalist Joseph Roth, den Zweig nach Ostende eingeladen hatte. Seit Jahren schon verband die beiden jüdischen Autoren aus dem einstigen österreichischen Kaiserreich eine tiefe Freundschaft. Zweig rettete den 13 Jahre jüngeren Kollegen immer wieder aus dessen chronischer Geldnot. Zugleich schätzte Zweig den literarischen Rat ebenso wie die beißende Kritik von Joseph Roth.
„Amour fou“ zwischen Roth und Keun
Joseph Roth war sofort nach Hitlers Machtergreifung 1933 nach Paris geflohen. Der hellsichtige Romancier und brillante Stilist, der famose Korrespondent der Frankfurter Zeitung schrieb in Ostende, wie stets und schon der Vorschüsse wegen, an gleich mehreren Texten. Und er frönte seiner Alkoholsucht, die ihn schon merklich gezeichnet hatte. Scharfsinnig wütend über sein Österreich, das den Nazis nicht die Stirn bot, arbeitete er in dem Café, in dem auch Irmgard Keun ihren Hass auf das nationalsozialistische Deutschland niederschrieb. Die beiden gingen eine Liebesbeziehung ein, die zwei Jahre lang hielt.„Beide soffen wie die Löcher“ – so kommentierte Ernst Toller die Verbindung. Der von deutschen Bühnen vertriebene Star-Dramatiker der Weimarer Republik versuchte in Ostende mit seiner jungen Frau, der Schauspielerin Christiane Grauthoff, Lebensmut zu schöpfen – mit Gleichgesinnten plaudernd, mit Keun und Gisela Kisch im Meer badend – noch hoffend. Bei der Nachricht von Tollers Selbstmord drei Jahre später im New Yorker Exil würde Roth in Paris seinen tödlichen Zusammenbruch erleiden. Und auch Zweig hielt es in seinem späteren Refugium in Brasilien nicht lange aus: 1942 nahm er sich mit Lotte das Leben.
Im Juli 1936 aber saßen die Flüchtlinge noch bei einem Aperitif unter dem Nordseehimmel zusammen. Es war der Sommer, in dem der Spanische Bürgerkrieg begann, in Moskau die ersten Schauprozesse stattfanden, in Griechenland die Diktatur ausgerufen wurde. Deutschland betrieb derweil für die Olympischen Sommerspiele eine groteske und verlogene Propaganda-Mimikri und kaschierte wegen der Gäste aus aller Welt kurze Zeit seine antijüdische Hetzjagd. Überlebt haben Nazi-Terror, Krieg und Nachkriegszeit nur Irmgard Keun, Arthur Koestler und Hermann Kesten. Der starb 1996, mit 96 Jahren als letzter Zeuge der Ostender Exilgesellschaft.