Wim Wenders und seine Filme
Ein nachdenklicher Workaholic
Er wollte Priester werden, Chirurg und schließlich Maler. Doch dann siegte seine Liebe zum Kino und er wurde Regisseur: Wim Wenders. Die Internationalen Filmfestspiele Berlin zeichnen den deutschen Autorenfilmer 2015 für sein Lebenswerk mit dem Goldenen Ehrenbären aus und ehren ihn mit einer Hommage.
Ein junger Mann reist allein durch die USA. Im Auto geht es über Highways, vorbei an Leuchtreklamen und Tankstellen. Philip Winter, so sein Name, soll eine Reportage über die amerikanische Landschaft schreiben. Doch er bekommt kein Wort zu Papier. Stattdessen sammelt er Fotos von Orten und Plätzen, um schließlich resigniert festzustellen, dass „doch nie drauf“ ist, „was man sieht“. Szenen aus Alice in den Städten (1974) von Wim Wenders. Er erzählt darin die Geschichte einer Odyssee vom Süden der USA bis nach München, die den Protagonisten am Ende zu sich selbst führt.
Dieses Hinterfragen von Bildern in einer Welt, die zunehmend bildgewaltiger wird, ist kennzeichnend für das Werk des Regisseurs, der in seinen Arbeiten gleichwohl selbst Bilder voller Bedeutung und Poesie geschaffen hat. Mit langen, ruhigen Einstellungen und behutsamer Montage fordern seine Filme dabei immer zum genauen Betrachten heraus. Alice in den Städten war der vierte Film von Wim Wenders. Erst nach diesem Film verstand er sich selbst als Regisseur und realisierte danach fast 50 weitere Spielfilme und Dokumentationen, zuletzt 2014 Das Salz der Erde, ein Porträt des brasilianischen Fotografen Sebastião Sagaldo.
Ein Erneuerer des deutschen Films
„Ich bin schon immer ein Bildermensch gewesen“, hat Wim Wenders einmal gesagt. Die Filmkarriere war dem 1945 in Düsseldorf geborenen Arztsohn jedoch keineswegs in die Wiege gelegt worden. Ursprünglich wollte er Priester werden, versuchte sich dann aber in Medizin, Philosophie und Soziologie, bevor er 1965 zum Malereistudium nach Paris zog. 1967 ging er an die neu eröffnete Hochschule für Fernsehen und Film in München. Um seine Filme selbst zu produzieren und in die Kinos zu bringen, gründete Wenders nach seinem Abschlussfilm Summer in The City (1971) zusammen mit zwölf weiteren Filmemachern den genossenschaftlichen Filmverlag der Autoren.Nicht nur in München wollten sich die jungen Autorenfilmer und Autorenfilmerinnen, zu deren Galionsfiguren Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog und Volker Schlöndorff avancierten, vom gängigen Unterhaltungsfilm ihrer Zeit abgrenzen und eine andere Filmsprache finden. Was sie einte, war ihre kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und politischen Situation in der Bundesrepublik sowie der nationalsozialistischen Vergangenheit. Damit verbunden war die Frage nach der eigenen Identität, ein Thema, das Wim Wenders immer wieder beschäftigt hat. Vor allem die Hauptfiguren seiner frühen Filme sind getriebene, in sich gekehrte junge Männer. Sie rebellieren gegen bürgerliche Lebenskonzepte, ohne dabei einen Gegenentwurf formulieren zu können. Nach dem Erfolg seiner Roadmovies Alice in den Städten und Im Lauf der Zeit (1976) gelang Wenders mit seinem Krimi Der amerikanische Freund (1977) nach einem Roman von Patricia Highsmith der internationale Durchbruch. Francis Ford Coppola holte den Deutschen als Regisseur für einen Film über den Krimiautor Dashiell Hammett nach Hollywood. Die Dreharbeiten sollten für Wenders zu einem Debakel werden.
Ein Deutscher in Amerika
Amerika erschien ihm, so hat Wenders einmal gesagt, als ein „Land unglaublicher Freizügigkeit, dem die Enge und Humorlosigkeit meines deutschen Heimatlandes nichts entgegenzusetzen hatte“. Immer wieder thematisierte der Regisseur den Einfluss, den die USA mit ihren Mythen und ihrer Popkultur auf seine Generation hatten. Bei Wenders findet sich dieser Einfluss ästhetisch etwa in weiten Landschaftspanoramen und in einem – an den Motiven des Malers Edward Hopper geschulten – Blick für das Leere wieder. Dennoch blieb sein Verhältnis zu den USA ambivalent. In Hollywood bekam er es bei den Dreharbeiten zu Hammett (1982) unmittelbar mit dem amerikanischen Filmgeschäft zu tun: Der stets auf Unabhängigkeit bedachte Regisseur musste auf Wunsch der Produzenten ständig nachdrehen und umschneiden. Dieses Erlebnis verarbeitete Wenders im Film Der Stand der Dinge (1982), in dem die Hauptfigur, ein deutscher Filmemacher, in Hollywood erschossen wird.Trotzdem lebte Wenders mehr als ein Jahrzehnt lang in Los Angeles und New York. In dieser Zeit realisierte er auch einen seiner größten Erfolge: Paris, Texas (1984) nach einem Drehbuch von Sam Shepard ist ein Roadmovie mit einer zeitlosen Geschichte über Einsamkeit, Liebe und der Suche nach dem eigenen Ich. Zurück in Deutschland drehte Wenders 1987 seinen zweiten großen Publikumserfolg Der Himmel über Berlin, in dem die geteilte Stadt aus der Perspektive von Engeln betrachtet wird. Wenders entwarf den Film als Collage von Stimmen, Tönen und Alltagsimpressionen. Er überhöht diese Collage mit poetischen, bedeutungsschweren Dialogen, die aus der Feder des mit ihm befreundeten Literaten Peter Handke stammen.
Paris, Texas (ausgezeichnet mit der Goldenen Palme in Cannes) und Der Himmel über Berlin (Preis für die beste Regie in Cannes) gehören unbestritten zu den Klassikern des Kinos. Dennoch stieß Wenders, der in den 1990er-Jahren selten an alte Filmerfolge anschließen konnte, oft auch auf harschen Gegenwind. So fiel zum Beispiel sein ambitioniertes Science-Fiction-Drama Bis ans Ende der Welt (1991) bei Kritik und Publikum durch. Man warf ihm vor, dass seine Filme prätentiös seien, sich nur selbst zitieren würden und einer veralteten Ära des Autorenkinos angehörten.
Filmemacher, Fotograf, Essayist
Doch unbeirrt davon hat Wenders auf seine eigene, nachdenkliche und zugleich neugierige Art weitergemacht. Neben Spielfilmen realisierte er Dokumentationen über Film, Mode, Musik, Architektur und Tanz. Für seinen Dokumentarfilm Pina (2011) über die Wuppertaler Choreografin Pina Bausch hat er die Körperlichkeit der Tanzenden durch den Einsatz von 3-D-Technik im Kino erfahrbar gemacht. Der Film wurde – wie zuvor die Musik-Dokumentation Buena Vista Social Club (1999) und wie 2015 Das Salz der Erde – für den Oscar nominiert.In seiner beruflichen Karriere wurde Wim Wenders mit allen wichtigen Filmpreisen bedacht. Er ist Mitbegründer und Präsident der Europäischen Filmakademie und hat sich auch als Dozent, Essayist und Fotograf einen Namen gemacht. Sein Spielfilm Everything Will Be Fine über einen Schriftsteller in einer Lebenskrise feiert Weltpremiere auf der Berlinale 2015. Ans Aufhören scheint der Regisseur, der 2015 seinen 70. Geburtstag feiert, also nicht zu denken: „Ich bin ein bekennender Workaholic“, sagte Wenders 2014 in einem Interview, „meine Arbeit und mein Leben habe ich nie trennen können“.
Foto Roland Emmerich: Franz Richter (User:FRZ) – Own work. Lizenz: CC BY-SA 2.5-2.0-1.0 via Wikimedia Commons