Corona-Politik
„Der Streit kann Brücken bauen“
Política do coronavírus |
In Deutschland gehen Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Corona-Politik der Regierung zu demonstrieren. Hier kommt zusammen, was sonst nur wenig Berührung findet: besorgte Bürger*innen, Anhänger*innen von Verschwörungsmythen, Esoteriker*innen und Rechtsradikale. In den Medien erhalten sie viel Aufmerksamkeit. Besteht ein Grund zu Sorge? Nicht unbedingt, meint der Protestforscher Dieter Rucht. Für ihn sind die Demonstrationen Teil des demokratischen Diskurses.
Von Wolfgang Mulke
Es ist nicht ein gemeinsames Ziel, das die Leute zusammenbringt, sondern eher ein gemeinsamer Anlass. Demonstrationen sorgen für eine Kulisse, die die Medien interessiert. Sie werden damit zur Bühne für einzelne Interessen und Ziele. Da ist es egal, was die Nachbar*innen links oder rechts, hinten oder vorne sagen und wollen.
Im Sommer 2020, als die Demonstrationen am größten waren, waren die Fallzahlen und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie in Deutschland vergleichsweise gering. Warum ist der Protest gerade hierzulande so ausgeprägt?
Als Hauptgrund sehe ich das Präventionsparadox. Das bedeutet, dass dort, wo die Krise keine besonderen Ausmaße angenommen hat, viele Leute die Schutzmaßnahmen für völlig übertrieben halten. Die Pandemie sei ja gar nicht so schlimm. Sie erkennen nicht an, dass genau diese Maßnahmen die Ausbreitung der Pandemie begrenzt haben. Begünstigt wird diese Haltung durch die Widersprüchlichkeit mancher politischer Entscheidungen, die in einem föderalen Staat vorkommt. Das irritiert die Menschen und führt zu Unmut.
Gab es in der Vergangenheit schon einmal ähnlich seltsame Allianzen des Protests?
Es gibt zwar gelegentlich Negativkoalitionen, bei denen sich konträre Gruppen punktuell zusammentun, um beispielsweise gemeinsame Gegner niederzuringen oder bestimmte Anliegen abzuwehren. Aber das sind temporäre Allianzen, die aus taktischen Gründen bewusst eingegangen werden, wie von rechten und linken Gruppen bei den Friedens-Mahnwachen 2014, die sich aus Anlass der Ukraine-Krise gegen globalen Finanzkapitalismus stellten. Aktuell sehe ich kein taktisches oder strategisches Element am Werk, sondern eher das Interesse, sich einer großen Öffentlichkeit zeigen zu können.
Ein Teil der Wut richtet sich, wie in anderen Ländern auch, gegen das „Establishment“, was immer damit gemeint ist. Kann es sein, dass aus dieser diffusen Bewegung eine entsteht, die bestehende Strukturen zerstören will – wenn auch erstmal ohne eine Alternative dazu anzubieten?
Das klappt nur in Einzelfällen, wenn die Gegenseite tief gespalten ist. Da fällt mir spontan die Situation in Israel ein. Dort gibt es auf der einen Seite ultraorthodoxe Juden und Jüdinnen, die eine geschlossene Welt bilden und ihre Interessen kraftvoll durchsetzen. Die linke und liberale Gesellschaft in Israel ist dagegen nicht geschlossen und bildet keinen homogenen Block. So kann das kleinere Lager seinen Willen durchsetzen, obgleich das andere Lager numerisch größer ist. Es kann also sein, dass eine Minderheit sich durch ihre Kompaktheit, Energie und gezielte Stöße gegen eine Mehrheit durchsetzt. Diese Möglichkeit sehe ich in der Bundesrepublik nicht, oder noch nicht gegeben. Wir haben hier ein relativ starkes Lager, das an den Corona-Maßnahmen festhält, und ein starkes demokratisches, das aufstehen wird, wenn der Protest stärker werden sollte.
Trotzdem bekommt man das Gefühl, dass sich die Fronten verhärten, und zwar nicht nur in Bezug auf Corona. Die Konflikte verschärfen sich auch in anderen wichtigen Fragen, etwa den Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, der Verkehrswende, der Digitalisierung oder der Migration. Erleben wir gerade eine gesellschaftliche Spaltung?
Es gibt eine schleichende Tendenz zur Polarisierung. Gleichwohl haben wir keine US-amerikanischen Verhältnisse. Auch wir haben zwar eine Reihe von Themen, bei denen es eine Spaltung gibt, aber die Trennlinien verlaufen jeweils zwischen ganz unterschiedlichen Gruppen und liegen quer zum Ausgangskonflikt. Das nimmt diesem die Schärfe. Als Beispiel lassen sich rechte Gruppen nennen, die Volksbefragungen stärken wollen. Das ist erst einmal ein Bekenntnis zur Demokratie. Es gibt auch viele Linke, die wie rechte Gruppen mehr Mitbestimmung des Volkes gutheißen.
Allgemein scheinen die Spannungen allerdings zuzunehmen. Ist das nicht besorgniserregend?
In den vergangenen 50 Jahren gibt es einen Trend zu mehr Themen und zu mehr Gruppen, die sich einschalten. Wir haben eine Fülle von Protesten. Solange die sich nicht in zwei große Lager teilen, ist dies kein Problem, sondern ein Teil des normalen demokratischen Geschehens. Der Streit kann Brücken bauen, weil sich die extremen Positionen mit der Zeit einander annähern.
Wie sollte man Corona-Leugner*innen oder Anhänger*innen von Verschwörungsmythen begegnen – lohnt es sich, mit ihnen über das Thema zu diskutieren?
Es gibt nicht eine einzige Strategie, die für alle Gruppen passen würde. Bei ideologisch gefestigten Rechtsradikalen nützt es wenig, mit Gegenargumenten aufzuwarten. Allerdings sind im diffuseren rechten Spektrum auch Leute dabei, die selbst latente Zweifel haben. Das ist die Gruppe, an die man sich wenden sollte. Corona-Zweifler*innen sollte man zum Beispiel erst einmal reden lassen und nicht gleich abwürgen. Man sollte nicht gleich dagegenhalten, sondern zurückfragen: Wo hast du das gelesen? Ist deine Quelle glaubwürdig? Dass an manchen Stellen kritische Fragen angebracht sind, kann man ebenso einräumen. Kritische Fragen sind legitim. Wenn ein Klima für das Zuhören geschaffen ist, kann man einen klaren Standpunkt markieren und mit Fakten dagegenhalten.
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