Zivilgesellschaftliche Initiativen
Recht auf Wohnen in der Stadt. Kreativer Protest aus Berlin, Marseille und Barcelona
Die Urbanisierung ist eine der bestimmenden Entwicklungen unserer Gegenwart und Zukunft. Die Missstände des wachsenden urbanen Raums machen es weltweit notwendig, dass Bürger*innen für Gerechtigkeit, Partizipation und Mitsprache in den Städten aktiv werden. Drei besonders erfolgreiche zivilgesellschaftliche und künstlerische Initiativen finden sich in Berlin, Barcelona und Marseille.
Von Sonja Preu und Bernadette Kiekenbeck
In einem virtuellen Austausch treffen sich die Vertreter*innen des Mietervereins Kotti und Co. (Berlin), der Initiative Tabasco Vidéo und die Aktivistin Valérie Manteau (Marseille) sowie die Vertreterinnen der Kooperativen La Pera Comunicació und Mujeres Pa’lante (Barcelona). Sie tauschen sich zu den Lebensrealitäten in den drei Städten aus und stellen ihre konkreten Aktionen für gerechtes Wohnen und Leben vor.
SICH FÜR EIN SOZIALERES WOHNEN EINSETZEN - KOTTI UND CO, BERLIN
In Berlin ist das Recht auf Wohnen schon lange auf der politischen Tagesordnung. Steigende Mieten drängen Bewohner*innen mit kleinem Einkommen an den Stadtrand und große Immobilien-Projekte vertreiben Menschen aus ihren Wohnvierteln. Angesichts dieser alarmierenden Entwicklung hat sich der Mieterverein Kotti & Co. zusammengetan. Der Verein wurde von der Nachbarschaft am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg 2011 als Reaktion auf angekündigte Mietenerhöhungen der Sozialwohnungen gegründet. Mit einem selbstgebauten Holzhaus, einem türkischen Gecekondu, besetzte der Verein 2012 den Platz vor den Sozialwohnungen am Kotti und protestiert mit der vielfältigen Nachbarschaft seitdem unter anderem mit lautstarken Kundgebungen gegen die Verdrängung von Mieter*innen mit kleinen Einkommen aus Kreuzberg und gegen die hohen Mieten in den Berliner Sozialwohnungen.Wir konnten vor allem Frauen ermutigen, sich über ihre Rechte aufklären zu lassen und sich für ein sozialeres Wohnen einzusetzen […]. Anfänglich haben die Anwohnerinnen teilweise gezögert, waren ängstlich und haben nicht daran geglaubt, sie können auf politischer Ebene etwas bewirken. Als wir dann mit ihnen gesprochen haben und sagten, dass die Beteiligung wichtig ist - von Tee kochen bis hin zum Austausch mit Politikern - jeder kann irgendetwas machen, da haben die Frauen Mut bekommen. Sie haben sich bestätigt gefühlt und gefragt: was kann ich noch machen, was gibt es noch zu tun?
Fatma Cakmak
Einwohner*innen im öffentlichen Raum und Diskurs sichtbar machen – Tabasco Vidéo und Valérie Manteau, Marseille
Élodie Sylvain und Benoît Ferrier von Tabasco Vidéo nutzen audiovisuelle und digitale Werkzeuge als Mittel, um das Bewusstsein für soziale Themen zu schärfen. Das Kollektiv agiert als partizipatives Medium für die Bewohner*innen der Marseiller Stadtviertel, damit deren Lebensrealitäten von ihnen selbst beschrieben werden können, die in den Medien oft stereotypisch dargestellt werden und mit Klischees behaftet sind. Sie publizieren das Magazin Fatche 2! als digitales und gedrucktes Bürgermagazin und sind eng verbunden mit dem Standort Coco Velten, ein vorübergehendes, von der Stadt geduldetes Besetzungsprojekt, in dem soziale und kulturelle Akteure ansässig sind.
Jede*r ist legitim das Wort zu ergreifen, das ist das Ziel ! […] Oft sind es die Bewohner der Viertel, die selbst über ihr Quartier sprechen wollen.
Benoît Ferrier von Tabasco Vidéo
Ich wohne im Viertel Noailles [...] Am 5. November 2018 stürzten am Ende der Straße wo unser Haus steht zwei Gebäude ein, acht Menschen starben. Dadurch wurden das Problem und die Gefahr des schlechten Zustands der Arbeiterviertel von Marseille offensichtlich. [...] Als Reaktion auf das Unglück gab es spontane Demonstrationen und das collectif du 5 novembre wurde gegründet. Dieses Kollektiv hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Andenken an die Opfer zu bewahren und die politische Verantwortung zu benennen [...] Wir haben eine Reihe von Demonstrationen in der Nachbarschaft organisiert und einen Online-Leitfaden erstellt, der den Evakuierten helfen soll, ihre Rechte zu verteidigen und sich zu organisieren.
Valérie Manteau
Die in Marseille lebende Journalistin und Aktivistin Valérie Manteau, die ihr Engagement mit einer „casquette féministe“ beschreibt, beschäftigt sich mit Themen, wie vor allem die weiblichen Einwohnerinnen im öffentlichen Raum und Diskurs sichtbar gemacht werden können. Sie ist Mitglied des Collectif du 5 novembre und von Culture des états généraux de Marseille und realisierte in einem journalistischen Projekt eine Portrait-Reihe zu Aktivistinnen in Marseille in der Zeitung La Marseillaise. Den Frauen soll auf politischer Ebene Gehör verschafft werden und ihre Unabdingbarkeit mit Hinblick auf die sozialen Fragen Marseilles deutlich gemacht werden.
Feministische Perspektive auf den sozialen Wandel und die solidargemeinschaft – La PEra Comunicació und Mujeres Pa’lante, Barcelona
Ähnlich wie das Coco Velten in Marseille, auf dessen Fläche Tabasco Vidéo ansässig ist, bietet die Hafenstadt Barcelona mit der ehemaligen Textilfabrik von Can Batlló einen Standort für kulturelle, soziale und zivilgesellschaftliche Initiativen und Kollektivgemeinschaften, wo Coòpolis sich befindet. Der selbstverwaltete Kollektivbetrieb als Organisationsform ist auch Teil der Philosophie sowie der sozialen und politischen Positionierung in Coòpolis. In Barcelona leiden die Bürger*innen besonders unter den erschreckenden Entwicklungen der Stadt: durch den Tourismus, der nicht auf Nachhaltigkeit zielt, und durch den Immobilienmarkt, der die Existenzen der Bewohner*innen bedroht. Besonders Frauen, unter anderem mit Migrationshintergrund und mit geringem Einkommen, sind von der Lage besonders betroffen. Einige Initiativen von Coòpolis setzen sich für die soziale und juristische Unterstützung der Frauen ein, sowie für das Aufbrechen von Repräsentationen, die nicht der sozialen Realität in Barcelona entsprechen.
Alba Terrones, Laie Hernández und Heura Vàzquez von der La Pera Comunicació Cooperativa engagieren sich für den sozialen Wandel und für nicht-kompetitive und transformative ökonomische Alternativen. Am Beispiel des Projekts Fotòpica setzt die Kooperative diese Grundsätze in einer Bilddatenbank um.
Wir möchten eine Bilddatenbank anlegen, die dazu beiträgt, die Stereotypen zu durchbrechen, die gegenwärtig das hetero-patriarchale, rassistische und kapitalistische System, in dem wir leben, aufrechterhalten.
La Pera Comunicació Cooperativa
Die soziale Realität und Existenzen von Frauen mit Migrationshintergrund in Barcelona ist das Wirkungsfeld von Mujeres Pa'lante. Diese Genossenschaft begleitet Migrantinnen bei ihrer Ausbildung, Beschäftigung und behördlichen Registrierung in der katalanischen Hauptstadt. Die Kooperative setzt sich für die Rechte sowie die Regularisierung der Arbeitssituationen und der Gehälter der Frauen ein. Durch die Pandemie sind vor allem migrantische Frauen mit wenigen sozialen Ressourcen in noch prekärere Situationen gekommen.
Die soziale Situation von Frauen mit Migrationshintergrund in Barcelona ist sehr instabil. Wir arbeiten mit Psychologen ohne Grenzen, sowie einem juristischen Verein, Sprach- und Computertrainingseinrichtungen und Alphabetisierungsprogrammen zusammen. Wir kochen auch mit den Frauen und begleiten ältere Menschen.
Leire Buitrago Manrique
Über das Projekt
Ein Projekt gefördert im Rahmen von FREIRAUM und initiiert von den Goethe-Instituten Marseille und Barcelona.
Kommentare
Kommentieren