Lesetipps für den Winter 2024/25

Drei neue Lesetipps von Ela Meyer - Drei Romane, die sich mit brüchigen Familienverhältnissen beschäftigen, mit abwesenden Eltern und Geschwistern, Entfremdung und unbeantworteten Fragen. Die Figuren geraten an einen Wendepunkt, ihnen bricht der Boden weg, und sie fangen noch einmal ganz neu an.
So versucht Rosa, die Protagonistin in Dana von Suffrins Roman „Noch mal von vorne“, nach dem Tod ihres Vaters die Geschichte ihrer zerrütteten Familie zu rekonstruieren, während sie in der Wohnung des Verstorbenen auf die Entrümpler wartet.
In Franziska Gänslers Roman „Wie Inseln im Licht“ begibt sich die Protagonistin Zoey auf eine Reise, um das Geheimnis um ihre verschwundene Schwester aufzudecken.
Jackie Thomae schreibt in „Brüder“ über Mick und Gabriel, zwei Halbbrüder, die weder einander noch ihren senegalesischen Vater kennen, und die als Erwachsene sehr unterschiedliche Wege einschlagen.

Ela Meyer ist Autorin der Romane Es war schon immer ziemlich kalt und Furchen und Dellen. Sie lebt in Barcelona.

Dana von Suffrin: Nochmal von vorne

Während sich Rosa nach dem Tod ihres Vaters alleine um dessen Nachlass kümmert, rekonstruiert sie aus lückenhaften und traurigen Erinnerungen ihre Familiengeschichte: vier Personen, verbunden durch ihre Neurosen und der Sehnsucht nach einem anderen Leben, eingezwängt zwischen zwei Kulturen, zwischen Verlust und Gegenwartsbewältigung, Israel und Deutschland. Eine Familie, in der Konflikte mal offen, mal subtil ausgetragen werden und Streit ebenso wie das jüdische Familienerbe dazugehören.
Der Vater hat als israelischer Soldat im Jom Kippur Krieg gekämpft und redet weder über seine Erfahrungen noch seine Gefühle. Die Mutter hat die Familie auf der Suche nach sich Selbst schon vor langem verlassen und Rosa ist sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch lebt. Nadja, die ältere Schwester, war früher Rosas Verbündete, doch hat sie sich vor Jahren von der Familie abgewandt und jeglichen Kontakt abgebrochen.
Den Familienalltag bestimmen Streit und Konflikte. Der Vater ist gefrustet, weil sein beruflicher Erfolg ausbleibt. Die Mutter, eine deutsche Soziologin, beschäftigt sich obsessiv mit dem Holocaust und der deutschen Schuld, ohne dabei die Rolle ihrer eigenen Vorfahren zu beleuchten. Nadja rebelliert gegen die Eltern und Rosa versucht zu schlichten.
Die Ferien verbringen sie in Tel Aviv, wo sie die Großmutter besuchen, die an ihrem Lebensende endlich über ihre traumatischen Kriegserlebnisse und ihre, von den Nazis ermordeten, Verwandten reden kann. Doch ihre fortgeschrittene Demenzerkrankung hindert sie, ihre Erinnerungen zu teilen.
Auch wenn sie erwachsen ist, hat Rosa nach dem Tod ihres Vaters das Gefühl, dass ihre Kindheit nun endgültig vorbei ist. Nach mehreren Anläufen gelingt es ihr, die Schwester zu erreichen. Langsam nähern sich die beiden wieder einander an, starten noch einmal von vorne.
Mit erstaunlich viel Humor und Ironie schreibt Dana von Suffrin über diese zerrüttete Familie. Durch geschicktes Einflechten historischer Ereignisse macht sie deutlich, wie diese von Generation zu Generation die Lebensläufe der Menschen prägen und sich in sie einschreiben.

Buchcover © Kiepenheuer & Witsch

Franziska Gänsler: Wie Inseln im Licht

Die ersten Jahre ihres Lebens verbringt Zoey mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester Oda in Frankreich auf einem Campingplatz am Atlantik. Sie wohnen in einem gemütlichen Bauwagen, aus dem die fünfjährige Oda unter ungeklärten Umständen verschwindet. Auch zwanzig Jahre später fühlt Zoey sich mitverantwortlich.
Als hätte es Oda nie gegeben, als würde sie die Vergangenheit aus ihrem Leben löschen, weigert sich die Mutter bis zu ihrem Tod, Zoeys Fragen zum Verbleib der kleinen Schwester zu beantworten. Zoeys eigene Erinnerungen sind widersprüchlich, Wirklichkeit und Fantasie vermischen sich. Tief im Nebel versunken ist jene Nacht, in der sie mit ihrer Schwester an der Hand alleine in den Wald hinter dem Campingplatz lief, wo sie auf fremde Männer trafen, während Lichter zwischen den Bäume tanzten.
Zoeys Beziehung zur Mutter ist von beidseitiger emotionaler Abhängigkeit geprägt. Die letzten drei Jahre hat Zoey zu Hause in Berlin gepflegt, allein und isoliert, da die Mutter jeglichen Kontakt zur Außenwelt ablehnte.
Nach deren Tod reist Zoey erneut nach Frankreich, um die Asche ihrer Mutter im Atlantik zu verstreuen. Getrieben von der winzigen Hoffnung, dass Oda noch leben könnte, und dem Wunsch, endlich Klarheit über die Umstände ihres Verschwindens zu erlangen, taucht Zoey in die Vergangenheit ein. Nach und nach fügen sich die Puzzlestücke aneinander, klären sich die Umstände, die zum Verlust der Schwester geführt haben.
Franziska Gänslers Sprache ist zart, akkurat und poetisch. Durch die detaillierten Beschreibungen und die interessanten Figuren entsteht Nähe, entwickelt der Roman einen Sog.

Buchcover © Kein + Aber

Jackie Thomae: Brüder

Im Mittelpunkt des Romans stehen Mick und Gabriel, zwei in der DDR aufgewachsene Halbbrüder. Weder kennen sie einander, noch ihren senegalesischen Vater. Obwohl sie mit ähnlichen Voraussetzungen gestartet sind, stolpern und preschen die beiden auf sehr unterschiedliche Weise durchs Leben.
Mick ist „Ein planloser Desperado, der scheinbar nichts zu verlieren hatte, gleichzeitig aber der enthusiastischste Liebhaber des Lebens [...]“, Gabriel „hatte sich aus Eigenschaften zusammengesetzt, die ihm gefielen und die ihm nutzten, was ihn als Person weniger organisch machte […].“
In der ersten Hälfte des Romans lässt sich Mick durch die Berliner Clubszene der 90er Jahre treiben, hat keinen festen Job, versucht sich als Drogenkurier und gründet schließlich mit Freunden einen Club. Er surft mit Leichtigkeit durchs Leben, bis er von einem Unfall ausgebremst wird und seine Freundin droht, ihn zu verlassen.
Die zweite Romanhälfte ist Gabriel gewidmet, einem erfolgreichen Architekten und Universitätsdozenten, der mit Frau und Sohn in London wohnt. Die Nerven des sonst so kontrollierten Gabriel liegen blank, er will nicht wahrhaben, dass er ist völlig überarbeitet ist. Als ihm nach einem Ausraster gegenüber einer Studentin rassistisches und sexistisches Verhalten vorgeworfen wird, sieht er sich gezwungen, eine Auszeit zu nehmen.
Elegant und mit viel Sprachwitz behandelt Jackie Thomae in diesem plotgetriebenen Roman beinahe beiläufig gewichtige Themen wie Herkunft, Identität, Rassismus und Klassenzugehörigkeit.

Buchcover © Hanser

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