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Lesen im Winter

Buchcover und Schneeflocken Cover © Verbrecher | Rowohlt | Diogenes

Drei neue Lesetipps von Ela Meyer 

In dem nur hundert Seiten umfassenden Roman Vater und ich von Dilek Güngör ist das Schweigen zwischen Vater und Tochter so vielschichtig und kompakt, als handelte es sich um einen weiteren Protagonisten.
In Nostalgia erzählt André Kubiczek vom Alltag in der DDR, seinem geistig behinderten Bruder und seiner aus Laos stammenden Mutter.
In der Novelle Die Geschichte von Herrn Sommer von Patrick Süskind spaziert ein Mann auf der Flucht vor seinen inneren Dämonen von morgens bis abends durch die Gegend.

Ela Meyer ist Autorin und Deutschlehrerin. Sie leitet den Buchclub der Bibliothek des Goethe-Instituts Barcelona.
  • Dilek Güngör: Vater und ich

    Als ihre Mutter für einige Tage verreist, besucht Ipek ihren Vater in dem Wunsch, sich ihm erneut anzunähern und die Verbundenheit von früher wiederzufinden.

    Ipek studiert als erste in der Familie. Sie ist Journalistin und wohnt in Berlin. Ihr Leben unterscheidet sich stark von dem ihrer Eltern, die täglich in ihrer Polsterei-Werkstatt in der Kleinstadt arbeiten. Ihre Eltern kamen in den 70er Jahren aus der Türkei als sogenannte Gastarbeiter*innen, schufteten jahrelang in einer Fabrik, bevor sie sich selbstständig machten.

    Nicht nur die Sprachbarriere, sondern auch der Bildungsunterschied und die verschiedenen kulturellen Backgrounds trennen vor allem Vater und Tochter voneinander. Der Vater wuchs unter ärmlichen Bedingungen auf dem Land auf. Er spricht fast nie über seine Kindheit, seine Gefühle und Gedanken. Obwohl Ipek als Journalistin gewohnt ist, andere Menschen zu interviewen, schafft sie es nicht, ihrem eigenen Vater die wichtigen Fragen zu stellen.

    Der Vater spricht nicht fließend Deutsch, die Tochter vergisst im Laufe der Pubertät immer mehr türkische Wörter. Sie benutzt ihr bruchstückhaftes Türkisch nur, um mit den Eltern und den Tanten zu reden. In der Schule verleumdet sie die Sprache ihrer Eltern, behauptet, kein Türkisch zu verstehen, um so eher von ihren Mitschüler*innen akzeptiert zu werden. Erst als Erwachsene lernt Ipek dialektfreies, korrektes Türkisch an der Uni, traut sich jedoch nicht, es vor dem Vater, der selbst Dialekt spricht, zu verwenden.

    Früher waren sie sich nah, da rang Ipek mit ihrem Vater noch auf dem Teppich, bewarfen sie sich mit Kissen und spielten der Mutter heimlich Streiche, waren sie Verbündete. Kaum in der Pubertät, wurde es unschicklich - ayıp -, mit dem Vater herumzualbern und zu toben. Plötzlich ziemte es sich nicht mehr, in Anwesenheit des Vaters im Unterhemd durch die Wohnung zu laufen, auf dem Sofa herumzuliegen oder breitbeinig zu sitzen. „Was vorher egal und ganz normal war, war nun peinlich, schuldbeladen.“
    Während der drei Tage ihres Besuchs, sind Ipek und ihr Vater alleine. Die abwesende Mutter kann ihre Sprachlosigkeit nicht mit Redeschwällen überdecken und nicht als Puffer zwischen ihnen herhalten.

    „Wenn wir weiter schweigen, werden wir für immer wie Fremde um den Herd in der Küche herumstehen, wie die living strangers. Wir sind keine stranger, wir sind Vater und Tochter, waren uns nah und so schön albern. So hätte es bleiben müssen, denn Vater und Tochter sollen nicht miteinander schweigen. Sie sollen sich vertraut fühlen, geborgen und beschützt. Sie sollen sich mit Worten berühren und nicht am Ungesagten ersticken.“

    „Vater und ich“ ist ein Roman über Sprache, Kommunikation und Sprachlosigkeit. Mit klaren und prägnanten Worten schreibt die Autorin über die Entfremdung zwischen den aus der Türkei kommenden Eltern und der in Deutschland aufgewachsenen Tochter, und widmet sich damit einem Thema, das viele Nachfahren von Migrant*innen kennen.

    Buchcover © Verbrecher Verlag © Verbrecher Verlag

  • André Kubiczek: Nostalgia

    In seinem Roman „Nostalgia“ blickt André Kubiczek auf seine Kindheit und Jugend in der DDR zurück. Eine der zentralen Figuren des Buchs ist seine Mutter, genannt Teo, die als junge Frau ihre Heimat Laos verlässt, um Andrés Vater, einen DDR-Bürger, zu heiraten.

    Genau wie der Autor heißt der Protagonist des Romans André, wie er wächst er in den 80er und 90er Jahren in der DDR auf. Wegen seines Äußeren - er hat starke Ähnlichkeit mit seiner Mutter - ist André häufig Ziel rassistischer Beleidigungen. Am liebsten wäre er normal, unauffällig und so „typisch deutsch“ wie die meisten seiner Mitschüler*innen, was mit einer laotischen Mutter und einem geistig behinderten Bruder an der Seite schwer ist. André liebt seinen jüngeren Bruder, doch als seine erste Freundin fragt, ob er Geschwister habe, verleugnet er ihn und bringt sich damit in eine missliche Lage. „Er kann morgen im Orion schlecht sagen: ‚Entschuldige, Bianca, ich habe mich geirrt. Kurz vor dem Einschlafen ist mir eingefallen, dass ich doch einen Bruder habe, und zwar einen, der geistig behindert ist.“

    Zu Hause nimmt André Mixtapes aus dem Radio auf und sieht Musiksendungen, eine Leidenschaft, die er mit Mutter Teo teilt. Er führt Hefte, in denen er unter anderem seine Besitztümer auflistet, ein Heft mit Sprichwörtern für seine Mutter ist in Planung, um ihr beim Deutsch lernen zu helfen. Für Teo, die bereits perfekt Deutsch spricht, ist es schwer, Fuß zu fassen. Sie wird oft diskriminiert, abgelehnt und argwöhnisch beäugt. Entsprechend groß ist ihr Heimweh, doch erhält sie keine Genehmigung, nach Laos zu reisen. Manchmal kommt Besuch von Verwandten, die ihr Klebreis mitbringen, den es in der DDR nicht gibt. André träumt davon, später Außenhändler oder Auslandskorrespondent zu werden, um Teo säckeweise Klebreis von seinen Reisen mitzubringen.

    Als André zwölf ist, wird bei seiner Mutter Krebs diagnostiziert. Vier Jahre später liegt die inzwischen schwer kranke Teo nur noch kraftlos auf dem Sofa im Wohnzimmer, das sie höchstens verlässt, um eine neue Behandlung über sich ergehen zu lassen. André fühlt sich überfordert, er hilft bei der Pflege und muss Verantwortung übernehmen. In seinen freien Stunden trifft er sich mit Freunden in einem Café, wo sie gemeinsam schreiben und so tun, als wären sie echte Intellektuelle.

    „Seit er seine sogenannten wirren Haare hat und schwarze Klamotten trägt, kann er nicht mehr genau sagen, warum ihn die Leute eigentlich anstarren. Seit er auf der Straße nicht mehr auf den Boden guckt, sondern den Leuten frech ins Gesicht, nimmt er solche Blicke eher als Kompliment auf. Es werden einem so viele Dinge egal, wenn zu Hause jemand liegt wie seine Mutter.“

    In der zweiten Hälfte des Romans wechselt die Perspektive mehrfach zur Mutter. Ihre Sehnsucht nach Laos wird mit Fortschreiten der Erkrankung immer dringlicher, ihr Gefühl der Fremdheit immer schwerer zu ertragen. Kurz vor ihrem Tod erhält sie endlich die Erlaubnis, ihre Familie in Laos zu besuchen.
    André Kubiczek erzählt „Nostalgia“ zu großen Teilen aus der Kinderperspektive und mit viel Einfühlungsvermögen. Der Ton des Buches ist trotz der schweren Themen eher leicht, dank einer Prise Ironie und dem trockenen Humor.
    Der Autor hat das Buch seiner Mutter und seinem Bruder Alain gewidmet, der mit nur siebzehn Jahre gestorben ist.

    Buchcover © Rowohlt Verlag © Rowohlt Verlag

  • Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer

    In dieser Novelle erzählt Patrick Süskind die Geschichte von Herrn Sommer „- soweit das überhaupt möglich ist, denn eigentlich gab es da gar keine ordentliche Geschichte, sondern es gab nur diesen seltsamen Menschen, dessen Lebensweg – oder sollte ich besser sagen: dessen Spazierweg? – sich ein paarmal mit dem meinen gekreuzt hat.“

    Der Erzähler wächst in einem Dorf am Starnberger See auf, wo er als Junge mit großer Begeisterung auf Bäume klettert. Die Aussicht vom Wipfel entschädigt ihn dafür, mit seinen 26 kg zu schwer zum Fliegen zu sein. Bei einem Sturz vom Baum zieht er sich eine Beule zu, deren Spätfolgen zu Konzentrationsproblemen und einer Neigung, während des Erzählens abzuschweifen, führen.
    Es sind die frühen Fünfziger Jahre, die Menschen berappeln sich vom Krieg und finden langsam in eine Routine zurück, als Herr und Frau Sommer in die Gegend ziehen. Niemand weiß, wo sie herkommen, keiner kennt Herrn Sommers Vornamen oder seinen Beruf, man weiß nur, dass er den ganzen Tag unterwegs ist.

    „Von morgens früh bis abends spät lief Herr Sommer durch die Gegend. Kein Tag im Jahr verging, an dem Herr Sommer nicht auf den Beinen war. Es mochte schneien oder hageln, es mochte stürmen oder aus Kübeln gießen, die Sonne mochte brennen, ein Orkan im Anzug sein - Herr Sommer war auf der Wanderschaft.“

    Herr Sommers rastloses Umherwandern erregt Aufmerksamkeit und Neugier, doch wenn ihn wer fragt, wohin er unterwegs sei, antwortet er nur widerwillig mit unverständlichem Gemurmel und hastet gleich weiter. Nur einmal hört der Erzähler einen vollständigen Satz von ihm, als er während eines Unwetters mit seinem Vater im Auto sitzt und sie Herrn Sommer dazu drängen, einzusteigen. „Ja, so laßt mich doch endlich in Frieden!“, schreit Herr Sommer da und hastet weiter.

    Als Folge schon erwähnter Beule schweift der Erzähler munter von einem Thema zum anderen, erzählt von seinem ersten Schwarm und der damit einhergehenden Enttäuschung, von seinen Schwierigkeiten mit dem Radfahren und seiner despotischen Klavierlehrerin. Allein für die hochdramatische Szene, in der die verhasste Klavierlehrerin und ein Popel die Hauptrollen spielen, lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.

    Den Jungen nimmt der Ärger mit seiner Lehrerin so mit, dass er kurzzeitig erwägt, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er klettert auf einen hohen Baum, doch Herr Sommers Auftauchen bewahrt den Jungen vor dem Sprung. Während Herr Sommer, müde vom Wandern, unter dem Baum rastet, lauscht der Junge, wie der Mann voller Seelenschmerz ächzt und stöhnt, so herzzerreißend, dass dem Jungen der eigene Schmerz plötzlich unbedeutend und lächerlich erscheint.

    Er wächst heran und fühlt sich auf der Höhe der Zeit. Ganz anders Herr Sommer, der zwar in Bewegung bleibt, über den die Zeit aber hinwegzugehen scheint. So bemerkt kaum jemand sein endgültiges Verschwinden, nur der Erzähler als einziger Zeuge weiß, was mit Herrn Sommer geschehen ist.
    In gut verständlicher Sprache schweift die Novelle von einer Episode zur nächsten, jeder Bogen, den sie malt, trifft genau im richtigen Moment erneut auf den Hauptstrang der Geschichte. Die Ausgabe der Bibliothek des Goethe Instituts enthält übrigens sehr charmante Illustrationen von Sempé.

    Buchcover © Diogenes Verlag © Diogenes Verlag

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