Lea Sauer
Lea Sauer
Lea Sauer ist eine deutsche Autorin und Essayistin und hat am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Ihre Novelle "Métro" wurde 2015 bei Sukultur veröffentlicht. 2018 hat sie das Buch "Flexen - Flâneusen schreiben Städte" mit dem Autor*innenkollektiv kollektiv flexen veröffentlicht. Ihre Kurzgeschichten waren für den New Voices Awards der Internationalen PEN-Stiftung nominiert und in deutschen Zeitschriften veröffentlicht. 2020 hat sie an der Mixed-Media-Art Residency CoLaboratory in Bukarest teilgenommen. Im August/ September 2021 ist sie als Stadtschreiberin in Helsinki. Die Residenz ist eine Kooperation des Goethe-Instituts Finnland mit Nuoren Voiman Liitto.
Finnland-Tagebuch
Ich hatte geschrieben, dass es mein Homecoming sein würde. Dass ich hier zurückkommen würde in ein Zuhause, in ein Land, das zumindest mal ein Jahr lang ein Zuhause war, zu einem Teil meiner Familie. Keiner blutsverwandten Familie, aber einer Familie, die ich länger in meinem Leben kenne, als ich sie nicht kenne. Zu einer Gastfamilie, Wahlverwandtschaften. Aber hätte ich mir wirklich diese Familie ausgesucht, wenn ich eine Wahl gehabt hätte? Ich glaube kaum. Ich hätte mir eine Familie ausgesucht, die anders gewesen wäre als meine eigene, wirkliche Familie. Eine Familie, in der Dinge ausgesprochen werden, eine fröhliche Familie. Tolstoi stimmt nicht: Alle Familien sind zu gleichen Teilen glücklich und unglücklich. Wenn man genau genug hinguckt. Wenn man lange genug eintaucht, wenn man den Alltag durchblickt. Und das Unglück passiert selten dramatisch, hat keinen Spannungsbogen, ist nicht immer erzählbar; nicht erzählbar weil alltäglich, weil nur erzählbar als Aneinanderreihung von Lücken.
Über diese Lücken denke ich nach auf der Fähre nach Helsinki. Ich denke darüber nach, wie irre das eigentlich ist, dass man das will als Teenagerin: Leben in einer anderen Familie für ein Jahr. Dass man das will als Familie: Sich eine pubertierende Teenagerin ins Haus holen. Ich denke darüber nach, dass ich, glaube ich, pubertierender war als andere.
Wasted irgendwie.
Dass ich das Jahr nicht abgebrochen habe, weil ich dafür ja bezahlt hatte.
Ich kann mich nicht mehr an vieles erinnern aus der Zeit vor diesem Jahr in Finnland. So wie ich mich auch nicht mehr an die Zeit von vor zehn Jahren erinnern kann; oder die vor fünf Jahren, die vor zwei. Ich erinnere alles immer irgendwie nur so, wie man auch Fotos erinnert, Filme, die man mal gesehen hat. Als wären die auf dem Foto und ich nicht dieselbe Person. Ein Mädchen, das nur zufällig im selben Körper steckt. Stimmt es, dass sich jede Zelle des Körpers alle sieben Jahre komplett erneuert? Irgendwas in dieser Art passiert mir im Kopf.
Deshalb kann ich es nur konstruieren, nicht genau sagen, ob es stimmt, wenn ich gefragt werde, warum ich damals ein Jahr ins Ausland gehen wollte und warum gerade nach Finnland. Ich erinnere mich, dass ich weg wollte. Weg von westdeutscher Provinz, Dorf. Weg von langen Nachmittagen an Bushaltestellen, Stunden am Fenster mit Ausblick auf den nächsten Waldhügel, begrenzt. Weg aus meinem überheizten Kinderzimmer, diesem Teenagerschweiß. Ja, ich glaube, in erster Linie wollte ich weg von diesem 1 Mädchen, was sich da nicht mehr als Mädchen gefühlt hat. Ich war naiv genug, zu glauben, dass Weggehen mich älter machen würde. Das war meine Vorstellung von Erwachsenwerden: sein Zuhause verlassen. Ja, ich glaube, das war es: Endlich jemand anders sein können, der werden, der man ist, so kitschig das klingt.
Ich sage manchmal, dass ich mich fühle, als sei ich seit meines sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gealtert. Und es stimmt. In gewisser Hinsicht zumindest. Ich höre immer noch Frank Ocean auf Repeat.
Was auch stimmt, ist: Ich denke immer wieder, dass ich fünf Leben gelebt habe in meinem Leben und sie nichts miteinander zu tun haben.
Auf Deck knallt die Sonne und ich höre Frank Ocean eigentlich nur wegen diesem einen Satz auf Repeat: Maybe I’m a fool to settle for a place with some nice views/Maybe I should move, settle down, two kids and a swimming pool. Der Gedanke daran, dass mit diesem Jahr damals alles angefangen hat, ich es seitdem nie länger als sechs Wochen an einem Stück irgendwo ausgehalten habe. Dass sich da dieses Wegwollen eingepflanzt hat, als Bewegungsrichtung, damals. Eine Vorstellung, dass es da einen anderen Ort gibt, irgendwo, der anders ist. Ein Ort, an dem ich dieses Dorf, meine Familie, meine Herkunft, meinen Background würde abschütteln können. Dass das vielleicht ein Fehler war, sich für diese Richtung zu entscheiden. Ein Fehler, der mich wahrscheinlich nie wieder verlassen wird.
Da ist keine Scham, ich habe mich noch nie geschämt für meine Familie, meine Herkunft, meinen Background. Ich weigere mich, mich für etwas zu schämen, was nicht in meiner Macht steht, nicht in ihrer Macht. Da ist was anderes: dieses ständige Gefühl, nicht dazuzugehören. Ständig irgendwas nicht zu wissen, sich beobachtet zu fühlen, wenn man isst, aus Angst, dass man die Gabel falsch hält, zu schnell herunterschlingt, zum Beispiel. Sich für sich selbst zu schämen, vielleicht. Das ist was anderes als Scham über die Herkunft, wirkt anders ein, ist nichts, gegen das man sich stellen kann; ist immer allein gefühlt, zeigt sich nicht als kollektives Gefühl.
Ich verschlafe die Ankunft in Helsinki in meiner Kabine ohne Fenster, schaffe es erst zur letzten Durchsage nach draußen, warte dann eine Stunde auf das Shuttle, das uns an Land bringen soll. Neben mir eine Familie in kompletter, allfarbiger Cargo-Montur, wie als wären sie immer bereit, gleich unter Deck Container zu beladen. Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Die Eltern sprechen wie ihre eigenen Kinder und umgekehrt. Ob sich das mal verlieren wird. Ich weiß gar nicht, wohin ich eigentlich weg will, denn das hier ist es nicht, das Ziel. Immer wenn ich solche Familien sehe, vermute ich ein Feuer und Brand, schwelend, irgendwo.
Ich bin Touristin in dieser Stadt, sie hat nichts von dieser waldigen Enge, keine Heimeligkeit, alles sieht aus wie Frischwäsche, weiß und weit, selbst das Licht wie gerade gebadet. Ich versuche J. zu schreiben, verwechsle bei jedem Wort Finnisch mit Französisch, auch wenn sie nichts miteinander zu tun haben. Ich schreibe:
Moi.
Ich schreibe: Olen tässä Helsingissä et voisin venir.
Komme mir total bescheuert dabei vor, weil eh, so gut ist mein Französisch jetzt auch nicht. Ich google, was es heißt, dass es schade wäre, wenn wir uns nicht sehen würden.
Ich schreibe:
Olisi sääli, jos emme näkisi toisiamme.
Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt, weil ich noch nie gehört habe, dass jemand sääli sagt, aber wer weiß. Ich füge ein niin ein, um zu betonen, dass es wirklich schade wäre.
Olisi niin sääli, jos emme näkisi toisiamme.
Dann lösche ich die Nachricht und versuche anzurufen, lege nach zweimal Klingeln auf. J. ruft zurück, ich gehe nicht dran. Von meinem Fenster aus, beobachte ich den Platz, der sich dort ausbreitet. Von oben sehen alle Leute aus wie Spielfiguren, alle haben kleine Hunde, sie bewegen sich, als würden sie Muster laufen, ihre Wege überschneiden sich nie. Ich überlege an einem guten ersten Satz, den man sich nach zehn Jahren sagen kann, was ich eigentlich erzählen kann von der Zeit, die dazwischen liegt, zwischen jetzt und meinem letzten Besuch, aber da ist nichts. Als J. zum dritten Mal anruft, nehme ich ab.
Déjà-vu. J. und E. holen mich wenige Tage später vom Bahnhof ab, wie mich auch meine eigenen Eltern vor zwei Wochen, zweitausend Kilometer weiter südlich abgeholt haben, in einer anderen Provinz, einem anderen Dorf, einem anderen Land: mit keinem Handgriff zu viel, unaufgeregt, als käme ich gerade vom Sport. Überhaupt ist hier alles so wie zweitausend Kilometer weiter südlich. Fichten überall, Teenager stehen in Hoodies am Bahnhof und trinken. Alles hier riecht noch genau wie damals, harzig und hundig, dabei sind die Hunde längst tot, J. und E. haben sich kaum verändert, äußerlich zumindest. Wir fragen uns nicht, wie es uns geht. Da ist dieselbe Stille im Auto; Luft, die steht. Alles wird in den Pausen gesagt. Es hätte keine passendere Gastfamilie geben können, in die ich mich hätte reinmorphen können damals, keine passendere Umgebung für dieses Mädchen vor vor zwanzig Jahren. Auch das ein Überbleibsel aus diesem Jahr: Ich bin Wasser geworden, anschmiegsam, durchsichtig, fast gar nicht da. Oder nein: Nur im Rückzug da, beobachtend, abwartend, dann, wenn da niemand ist außer ich, dann bin ich da.
Es ist ein Klischee, das Finnen nicht sprechen, nur das sagen, was von Wert ist. Die Leute sagen es hier eigentlich immer mit Stolz, dass sie sich auf das Wesentliche konzentrieren, kein chit-chat, kein Wort zu viel. Es ist kein Klischee; und vor allem keines, was nur hier gilt.
Hier ist was ich glaube: Ich glaube, dass ich angefangen habe zu schreiben, weil mir gesagt wurde, das Schweigen Gold ist.
Weil ich nicht will, dass das stimmt.
Weil ich denke, dass man denen, die dies behaupten das Gegenteil beweisen muss.
Denn auch das ist eine Art, Menschen zum Schweigen zu bringen: Indem man es ihnen als Haltung verkauft, ehrbar, ihnen sagt, dass das Sprechen nicht zu ihnen passt, sie verwundbar macht, Gefahr bedeutet. Indem man sie einfach nie auffordert zu sprechen.
Das Haus macht kein Geräusch ohne die Hunde, alles ist an seinem Platz, mein ehemaliges Kinderzimmer oben, mit den schmalen Fenstern, vor dem Spiegel ein Teddybär, Fotos von A. und V. an den Wänden, von V.s Kindern, seiner Frau. Das Haus macht kein Geräusch ohne A. und V. Ich reiße alle Schranktüren auf zur Kontrolle, würde gerne sagen, dass das sich anfühlt wie Nachhausekommen, ein anderes Homecoming, kein Ankommen, ein Zurückkommen ja. Ich kann sagen, wo sich in der Küche die Tassen befinden, die Teller, die Wäsche, ich laufe durch jeden Raum, fasse alles an, fahre mit den Fingern über die Anrichte im Flur. Dieselben Sofas, lege mich auf denselben Teppich im Wohnzimmer, mit ausgebreiteten Armen, grabe meine Hände ein in die Fransen, schließe die Augen. J. fragt, was ich mache. Er ist so leise in den Raum gekommen, dass er schon über mir steht, als ich die Augen öffne. Ich öffne den Mund, sehe sein Kinn von unten und sage nichts.
Ich schreibe A., dass ich finde, dass sich unsere Familien gleichen, dass ich in meinem, ihrem alten Kinderzimmer sitze, ich schicke ihr ein Foto von einem Foto von ihr.
Zwei Stunden später sitzen wir bei V. in seinem Wohnzimmer.
Nur eine Erinnerung mit V. von früher: Wir auf einem Motorboot mit ausgeschaltetem Motor. Wir sitzen auf dem Buk in der Sonne, vor uns liegt der See so grau und still als wäre er ein Fels. Ich weiß nicht mehr, worüber wir damals gesprochen haben, aber ich erinnere mich, dass ich nicht wollte, dass es aufhört, dass ich seitdem denke, dass V. jemand ist, der mir ähnlich ist, aber ich nicht weiß, in welchem Punkt. Ich versuch immer und immer wieder mich daran zu erinnern, immer wieder auszumachen, was er gesagt hat, aber das Bild bleibt geräuschlos.
Ich morphe mich in sein Sofa. Was ich so mache, wie lange ich bleibe. Wir werden immer wieder von seinen beiden Kindern unterbrochen, sie spielen auf dem Boden, wollen dass er mitspielt. Sie haben Schafe im Garten, sie wollen mir die Schafe zeigen. Die sind ausgeliehen, sagt V. und ich sage, dass ich nie gedacht hätte, dass er mal zurückzieht. Ich glaube, als wir auf dem Boot saßen, wohnte er gerade eigentlich in Kuala Lumpur.
Seine Pupillen drehen sich unter flackernden Lidern nach oben, wenn er spricht. Etwas, was er sich in den letzten Jahren angewöhnt haben muss, er sieht immer mehr 5 aus wie sein Vater, denke ich. Ich versuche mir vorzustellen, wie J. ausgesehen haben muss in unserem Alter. V. sagt, dass es nur vorübergehend ist, das Haus nur gemietet und ich denke, während er das sagt, dass er vielleicht einfach irgendwas an irgendeiner Stelle besser verstanden haben muss als ich.
Maybe I’m a fool to settle for a place with some nice views.
Maybe I should move.
Settle down, two kids and a swimming pool.
Dass ich das Gefühl habe, dass ich mich entscheiden muss. Oder musste. Ohne dass ich wüsste, was überhaupt die Optionen gewesen waren. Das ich aber, instinktiv nur, weiß, dass ich nie Schafe für meinen Garten mieten werde, nie ein Haus haben werde, nie Kinder haben werde. Und das nicht, weil ich mich dagegen entschieden hätte, sondern weil ich mich für etwas anderes entschieden habe, von dem ich immer noch nicht sagen kann, was es ist, außer:
Etwas anderes als das.
Eine andere Familie als das.
I’d rather live outside.
I’d rather go to jail.
I’ve tried hell.
Mir fällt auf, dass ich rein gar nichts über diese Familie, über J. oder E., über V. oder seine Frau weiß, ich sie nur kenne, wie man entfernte Verwandte kennt: Faktisch. Ich kenne Eckdaten, ihre Adresse, ihr Haus. Ich kenne sie so, wie ich meine eigene Familie kenne. Als Geschichte, die ich mir erzähle. Fotos, Bilder, Märchen einer geteilten Zeit.
Ich würde gerne etwas über sie schreiben, etwas, was sie greifbarer macht, auch in diesem Text. Sie irgendwas fragen, aber, sag mal, wie etwas fragen, von dem man weiß, dass man zu spät ist dafür, dass sich alle schon eingerichtet haben in ihrer Position? Und jede Frage würde das Verhältnis riskieren. Und jede Frage würde eine weitere Frage provozieren. Die da lautet: Warum willst du das wissen?
Das schreibe ich A. Sie antwortet, dass sie es auch nicht besser weiß. Sie fragt, ob ich noch weitere Erkenntnisse habe. Sie benutzt wirklich das Wort Erkenntnisse und es klingt ironisch, obwohl sie es nicht ironisch gemeint hat, das weiß ich genau. Von wem stammt dieser Satz: Dass sich kein Zuhause mehr wie ein Zuhause anfühlt, hat man seine Eltern einmal verlassen; sein Elternhaus. Was aber, wenn sich auch dieser Ort nicht mehr anfühlt wie ein Zuhause? Wenn jedes Zurückkommen nur aufzeigt, wie wenig man dorthin gehört, nur als Spiegel funktioniert; gespiegelte Entfernung. Warum es bislang nur so funktioniert für mich, diese Möglichkeit eines Ankommens bei mir: als Entfremdung, Herausreißen, Exilierung. Abschied von jeglicher Art von Familie. Maybe I’m a fool. Ich als Insel. Als Entfremdung, Herausreißen, Exilierung von und in mir selbst. Ein Fremdkörper in allen Räumen. Maybe I should move and settle. Warum ich immer so naiv, so unreif, so unwissend klinge, wenn ich frage: Warum? Warum mich das so beunruhigt, der Gedanke daran? Ich bin hier nicht zuhause, genauso wenig zuhause wie in meiner anderen Familie oder überhaupt in einer Art von Familie. Warum klinge ich wie das kleine Mädchen von damals, wenn ich frage, warum ich kein Anrecht darauf habe, auf beides. Auf Familie, ein Nest, ein Zuhause. Two kids and a swimming pool. Auf etwas anderes, was nichts mit diesen Familien zu tun hat. Warum sich das nicht vereinbaren lässt für mich. Warum ich die eigentliche Frage nicht über die Lippen bekomme. I’m not brave.
Maybe I’m a fool to settle for a place with some nice views.
Im Zug halte ich den ganzen Weg zurück mein Gesicht zum Fenster gedreht, sehe nichts von dem, was draußen verschwimmt, wische mir auf der Zugtoilette das Gesicht, hoffe, dass man die zerlaufene Mascara nicht sieht. J. hatte mich zum Bahnhof gebracht. Als wir uns zum Abschied umarmten, stießen unsere Schultern aneinander, unbeholfen, die Arme steif.
Über diese Lücken denke ich nach auf der Fähre nach Helsinki. Ich denke darüber nach, wie irre das eigentlich ist, dass man das will als Teenagerin: Leben in einer anderen Familie für ein Jahr. Dass man das will als Familie: Sich eine pubertierende Teenagerin ins Haus holen. Ich denke darüber nach, dass ich, glaube ich, pubertierender war als andere.
Wasted irgendwie.
Dass ich das Jahr nicht abgebrochen habe, weil ich dafür ja bezahlt hatte.
Ich kann mich nicht mehr an vieles erinnern aus der Zeit vor diesem Jahr in Finnland. So wie ich mich auch nicht mehr an die Zeit von vor zehn Jahren erinnern kann; oder die vor fünf Jahren, die vor zwei. Ich erinnere alles immer irgendwie nur so, wie man auch Fotos erinnert, Filme, die man mal gesehen hat. Als wären die auf dem Foto und ich nicht dieselbe Person. Ein Mädchen, das nur zufällig im selben Körper steckt. Stimmt es, dass sich jede Zelle des Körpers alle sieben Jahre komplett erneuert? Irgendwas in dieser Art passiert mir im Kopf.
Deshalb kann ich es nur konstruieren, nicht genau sagen, ob es stimmt, wenn ich gefragt werde, warum ich damals ein Jahr ins Ausland gehen wollte und warum gerade nach Finnland. Ich erinnere mich, dass ich weg wollte. Weg von westdeutscher Provinz, Dorf. Weg von langen Nachmittagen an Bushaltestellen, Stunden am Fenster mit Ausblick auf den nächsten Waldhügel, begrenzt. Weg aus meinem überheizten Kinderzimmer, diesem Teenagerschweiß. Ja, ich glaube, in erster Linie wollte ich weg von diesem 1 Mädchen, was sich da nicht mehr als Mädchen gefühlt hat. Ich war naiv genug, zu glauben, dass Weggehen mich älter machen würde. Das war meine Vorstellung von Erwachsenwerden: sein Zuhause verlassen. Ja, ich glaube, das war es: Endlich jemand anders sein können, der werden, der man ist, so kitschig das klingt.
Ich sage manchmal, dass ich mich fühle, als sei ich seit meines sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gealtert. Und es stimmt. In gewisser Hinsicht zumindest. Ich höre immer noch Frank Ocean auf Repeat.
Was auch stimmt, ist: Ich denke immer wieder, dass ich fünf Leben gelebt habe in meinem Leben und sie nichts miteinander zu tun haben.
Auf Deck knallt die Sonne und ich höre Frank Ocean eigentlich nur wegen diesem einen Satz auf Repeat: Maybe I’m a fool to settle for a place with some nice views/Maybe I should move, settle down, two kids and a swimming pool. Der Gedanke daran, dass mit diesem Jahr damals alles angefangen hat, ich es seitdem nie länger als sechs Wochen an einem Stück irgendwo ausgehalten habe. Dass sich da dieses Wegwollen eingepflanzt hat, als Bewegungsrichtung, damals. Eine Vorstellung, dass es da einen anderen Ort gibt, irgendwo, der anders ist. Ein Ort, an dem ich dieses Dorf, meine Familie, meine Herkunft, meinen Background würde abschütteln können. Dass das vielleicht ein Fehler war, sich für diese Richtung zu entscheiden. Ein Fehler, der mich wahrscheinlich nie wieder verlassen wird.
Da ist keine Scham, ich habe mich noch nie geschämt für meine Familie, meine Herkunft, meinen Background. Ich weigere mich, mich für etwas zu schämen, was nicht in meiner Macht steht, nicht in ihrer Macht. Da ist was anderes: dieses ständige Gefühl, nicht dazuzugehören. Ständig irgendwas nicht zu wissen, sich beobachtet zu fühlen, wenn man isst, aus Angst, dass man die Gabel falsch hält, zu schnell herunterschlingt, zum Beispiel. Sich für sich selbst zu schämen, vielleicht. Das ist was anderes als Scham über die Herkunft, wirkt anders ein, ist nichts, gegen das man sich stellen kann; ist immer allein gefühlt, zeigt sich nicht als kollektives Gefühl.
Ich verschlafe die Ankunft in Helsinki in meiner Kabine ohne Fenster, schaffe es erst zur letzten Durchsage nach draußen, warte dann eine Stunde auf das Shuttle, das uns an Land bringen soll. Neben mir eine Familie in kompletter, allfarbiger Cargo-Montur, wie als wären sie immer bereit, gleich unter Deck Container zu beladen. Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Die Eltern sprechen wie ihre eigenen Kinder und umgekehrt. Ob sich das mal verlieren wird. Ich weiß gar nicht, wohin ich eigentlich weg will, denn das hier ist es nicht, das Ziel. Immer wenn ich solche Familien sehe, vermute ich ein Feuer und Brand, schwelend, irgendwo.
Ich bin Touristin in dieser Stadt, sie hat nichts von dieser waldigen Enge, keine Heimeligkeit, alles sieht aus wie Frischwäsche, weiß und weit, selbst das Licht wie gerade gebadet. Ich versuche J. zu schreiben, verwechsle bei jedem Wort Finnisch mit Französisch, auch wenn sie nichts miteinander zu tun haben. Ich schreibe:
Moi.
Ich schreibe: Olen tässä Helsingissä et voisin venir.
Komme mir total bescheuert dabei vor, weil eh, so gut ist mein Französisch jetzt auch nicht. Ich google, was es heißt, dass es schade wäre, wenn wir uns nicht sehen würden.
Ich schreibe:
Olisi sääli, jos emme näkisi toisiamme.
Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt, weil ich noch nie gehört habe, dass jemand sääli sagt, aber wer weiß. Ich füge ein niin ein, um zu betonen, dass es wirklich schade wäre.
Olisi niin sääli, jos emme näkisi toisiamme.
Dann lösche ich die Nachricht und versuche anzurufen, lege nach zweimal Klingeln auf. J. ruft zurück, ich gehe nicht dran. Von meinem Fenster aus, beobachte ich den Platz, der sich dort ausbreitet. Von oben sehen alle Leute aus wie Spielfiguren, alle haben kleine Hunde, sie bewegen sich, als würden sie Muster laufen, ihre Wege überschneiden sich nie. Ich überlege an einem guten ersten Satz, den man sich nach zehn Jahren sagen kann, was ich eigentlich erzählen kann von der Zeit, die dazwischen liegt, zwischen jetzt und meinem letzten Besuch, aber da ist nichts. Als J. zum dritten Mal anruft, nehme ich ab.
Déjà-vu. J. und E. holen mich wenige Tage später vom Bahnhof ab, wie mich auch meine eigenen Eltern vor zwei Wochen, zweitausend Kilometer weiter südlich abgeholt haben, in einer anderen Provinz, einem anderen Dorf, einem anderen Land: mit keinem Handgriff zu viel, unaufgeregt, als käme ich gerade vom Sport. Überhaupt ist hier alles so wie zweitausend Kilometer weiter südlich. Fichten überall, Teenager stehen in Hoodies am Bahnhof und trinken. Alles hier riecht noch genau wie damals, harzig und hundig, dabei sind die Hunde längst tot, J. und E. haben sich kaum verändert, äußerlich zumindest. Wir fragen uns nicht, wie es uns geht. Da ist dieselbe Stille im Auto; Luft, die steht. Alles wird in den Pausen gesagt. Es hätte keine passendere Gastfamilie geben können, in die ich mich hätte reinmorphen können damals, keine passendere Umgebung für dieses Mädchen vor vor zwanzig Jahren. Auch das ein Überbleibsel aus diesem Jahr: Ich bin Wasser geworden, anschmiegsam, durchsichtig, fast gar nicht da. Oder nein: Nur im Rückzug da, beobachtend, abwartend, dann, wenn da niemand ist außer ich, dann bin ich da.
Es ist ein Klischee, das Finnen nicht sprechen, nur das sagen, was von Wert ist. Die Leute sagen es hier eigentlich immer mit Stolz, dass sie sich auf das Wesentliche konzentrieren, kein chit-chat, kein Wort zu viel. Es ist kein Klischee; und vor allem keines, was nur hier gilt.
Hier ist was ich glaube: Ich glaube, dass ich angefangen habe zu schreiben, weil mir gesagt wurde, das Schweigen Gold ist.
Weil ich nicht will, dass das stimmt.
Weil ich denke, dass man denen, die dies behaupten das Gegenteil beweisen muss.
Denn auch das ist eine Art, Menschen zum Schweigen zu bringen: Indem man es ihnen als Haltung verkauft, ehrbar, ihnen sagt, dass das Sprechen nicht zu ihnen passt, sie verwundbar macht, Gefahr bedeutet. Indem man sie einfach nie auffordert zu sprechen.
Das Haus macht kein Geräusch ohne die Hunde, alles ist an seinem Platz, mein ehemaliges Kinderzimmer oben, mit den schmalen Fenstern, vor dem Spiegel ein Teddybär, Fotos von A. und V. an den Wänden, von V.s Kindern, seiner Frau. Das Haus macht kein Geräusch ohne A. und V. Ich reiße alle Schranktüren auf zur Kontrolle, würde gerne sagen, dass das sich anfühlt wie Nachhausekommen, ein anderes Homecoming, kein Ankommen, ein Zurückkommen ja. Ich kann sagen, wo sich in der Küche die Tassen befinden, die Teller, die Wäsche, ich laufe durch jeden Raum, fasse alles an, fahre mit den Fingern über die Anrichte im Flur. Dieselben Sofas, lege mich auf denselben Teppich im Wohnzimmer, mit ausgebreiteten Armen, grabe meine Hände ein in die Fransen, schließe die Augen. J. fragt, was ich mache. Er ist so leise in den Raum gekommen, dass er schon über mir steht, als ich die Augen öffne. Ich öffne den Mund, sehe sein Kinn von unten und sage nichts.
Ich schreibe A., dass ich finde, dass sich unsere Familien gleichen, dass ich in meinem, ihrem alten Kinderzimmer sitze, ich schicke ihr ein Foto von einem Foto von ihr.
Zwei Stunden später sitzen wir bei V. in seinem Wohnzimmer.
Nur eine Erinnerung mit V. von früher: Wir auf einem Motorboot mit ausgeschaltetem Motor. Wir sitzen auf dem Buk in der Sonne, vor uns liegt der See so grau und still als wäre er ein Fels. Ich weiß nicht mehr, worüber wir damals gesprochen haben, aber ich erinnere mich, dass ich nicht wollte, dass es aufhört, dass ich seitdem denke, dass V. jemand ist, der mir ähnlich ist, aber ich nicht weiß, in welchem Punkt. Ich versuch immer und immer wieder mich daran zu erinnern, immer wieder auszumachen, was er gesagt hat, aber das Bild bleibt geräuschlos.
Ich morphe mich in sein Sofa. Was ich so mache, wie lange ich bleibe. Wir werden immer wieder von seinen beiden Kindern unterbrochen, sie spielen auf dem Boden, wollen dass er mitspielt. Sie haben Schafe im Garten, sie wollen mir die Schafe zeigen. Die sind ausgeliehen, sagt V. und ich sage, dass ich nie gedacht hätte, dass er mal zurückzieht. Ich glaube, als wir auf dem Boot saßen, wohnte er gerade eigentlich in Kuala Lumpur.
Seine Pupillen drehen sich unter flackernden Lidern nach oben, wenn er spricht. Etwas, was er sich in den letzten Jahren angewöhnt haben muss, er sieht immer mehr 5 aus wie sein Vater, denke ich. Ich versuche mir vorzustellen, wie J. ausgesehen haben muss in unserem Alter. V. sagt, dass es nur vorübergehend ist, das Haus nur gemietet und ich denke, während er das sagt, dass er vielleicht einfach irgendwas an irgendeiner Stelle besser verstanden haben muss als ich.
Maybe I’m a fool to settle for a place with some nice views.
Maybe I should move.
Settle down, two kids and a swimming pool.
Dass ich das Gefühl habe, dass ich mich entscheiden muss. Oder musste. Ohne dass ich wüsste, was überhaupt die Optionen gewesen waren. Das ich aber, instinktiv nur, weiß, dass ich nie Schafe für meinen Garten mieten werde, nie ein Haus haben werde, nie Kinder haben werde. Und das nicht, weil ich mich dagegen entschieden hätte, sondern weil ich mich für etwas anderes entschieden habe, von dem ich immer noch nicht sagen kann, was es ist, außer:
Etwas anderes als das.
Eine andere Familie als das.
I’d rather live outside.
I’d rather go to jail.
I’ve tried hell.
Mir fällt auf, dass ich rein gar nichts über diese Familie, über J. oder E., über V. oder seine Frau weiß, ich sie nur kenne, wie man entfernte Verwandte kennt: Faktisch. Ich kenne Eckdaten, ihre Adresse, ihr Haus. Ich kenne sie so, wie ich meine eigene Familie kenne. Als Geschichte, die ich mir erzähle. Fotos, Bilder, Märchen einer geteilten Zeit.
Ich würde gerne etwas über sie schreiben, etwas, was sie greifbarer macht, auch in diesem Text. Sie irgendwas fragen, aber, sag mal, wie etwas fragen, von dem man weiß, dass man zu spät ist dafür, dass sich alle schon eingerichtet haben in ihrer Position? Und jede Frage würde das Verhältnis riskieren. Und jede Frage würde eine weitere Frage provozieren. Die da lautet: Warum willst du das wissen?
Das schreibe ich A. Sie antwortet, dass sie es auch nicht besser weiß. Sie fragt, ob ich noch weitere Erkenntnisse habe. Sie benutzt wirklich das Wort Erkenntnisse und es klingt ironisch, obwohl sie es nicht ironisch gemeint hat, das weiß ich genau. Von wem stammt dieser Satz: Dass sich kein Zuhause mehr wie ein Zuhause anfühlt, hat man seine Eltern einmal verlassen; sein Elternhaus. Was aber, wenn sich auch dieser Ort nicht mehr anfühlt wie ein Zuhause? Wenn jedes Zurückkommen nur aufzeigt, wie wenig man dorthin gehört, nur als Spiegel funktioniert; gespiegelte Entfernung. Warum es bislang nur so funktioniert für mich, diese Möglichkeit eines Ankommens bei mir: als Entfremdung, Herausreißen, Exilierung. Abschied von jeglicher Art von Familie. Maybe I’m a fool. Ich als Insel. Als Entfremdung, Herausreißen, Exilierung von und in mir selbst. Ein Fremdkörper in allen Räumen. Maybe I should move and settle. Warum ich immer so naiv, so unreif, so unwissend klinge, wenn ich frage: Warum? Warum mich das so beunruhigt, der Gedanke daran? Ich bin hier nicht zuhause, genauso wenig zuhause wie in meiner anderen Familie oder überhaupt in einer Art von Familie. Warum klinge ich wie das kleine Mädchen von damals, wenn ich frage, warum ich kein Anrecht darauf habe, auf beides. Auf Familie, ein Nest, ein Zuhause. Two kids and a swimming pool. Auf etwas anderes, was nichts mit diesen Familien zu tun hat. Warum sich das nicht vereinbaren lässt für mich. Warum ich die eigentliche Frage nicht über die Lippen bekomme. I’m not brave.
Maybe I’m a fool to settle for a place with some nice views.
Im Zug halte ich den ganzen Weg zurück mein Gesicht zum Fenster gedreht, sehe nichts von dem, was draußen verschwimmt, wische mir auf der Zugtoilette das Gesicht, hoffe, dass man die zerlaufene Mascara nicht sieht. J. hatte mich zum Bahnhof gebracht. Als wir uns zum Abschied umarmten, stießen unsere Schultern aneinander, unbeholfen, die Arme steif.
B. hat tausend Euro in bar dabei, Geld von seinen Jobs im Sommer neben seinem eigentlichen Job, Kumpels aushelfen, nennt er das, da mal einen Garten anlegen, einen Teich ausheben, eine Mauer bauen, so Sachen, und kann jetzt hier nirgendwo bezahlen damit. Weil hier alles nur mit Karte funktioniert und seine nicht gedeckt ist. Die Miete für das Haus seiner Eltern, Schulden für den Betrieb, der insolvent gegangen ist letztes Jahr. Selbst in der Markthalle, wo er was zu Mittag essen wollte, erzählt er, war bar nichts zu machen. Er musste die Frau hinter der Theke bequatschen, dass sie für ihn auslegt und hat ihr dann einen Zwanziger für ein Sandwich hingelegt. Trinkgeld, sagt er. Das liebe ich an B.: dass er großzügig ist im Kleinen und nachvollziehbar korrupt im Großen.
Ich liebe, dass er Überraschungsbesuche macht, einfach so.
Vor zwei Tagen hatte er mir geschrieben, dass er in der Stadt sein würde und ob ich Zeit hätte, und jetzt sitzen wir hier auf dem Bürgersteig vor dem Sinebrychoffinpuisto und schauen auf nichts als Backstein. Ich, weil ich es nicht aushalte, B. ins Gesicht zu gucken, er, weil es ihm vielleicht genauso geht, wer weiß. Als wir uns letztes Jahr gesehen haben, hat er erst nach Stunden mit der Sprache rausgerückt, in Nebensätzen, so dass ich es nicht sofort verstanden und mich danach gefühlt habe, als hätte er mich zu einer Komplizin gemacht für etwas, was eigentlich so nicht sein darf. So als hätte ich ihm da, ebenfalls nebenbei, einfach so, versehentlich eine Absolution erteilt. Der Arzt habe ihm gesagt, noch fünf Jahre mit diesem Herz, wenn er nicht aufhört zu rauchen, wenn er nicht aufhört doppelte Schichten zu schieben. Und ich habe letztes Jahr nichts dazu gesagt, so wie ich auch jetzt nichts dazu sage, hier auf diesem Bürgersteig, während ich auf Hauswände starre, auf seine Hände, auf meine Hände, wie wir uns eine Zigarette nach der nächsten drehen. Ich glaube, dass ich die einzige bin, der er von diesem Arztbesuch erzählt hat, und langsam verstehe ich auch warum.
B. und ich kennen uns noch aus der Grundschule und haben auch dann noch fast jeden Tag was miteinander verbracht, als wir nach der vierten Klasse getrennt wurden, als er mit sechzehn seinen Abschluss machte, war ich sein +1 auf der Feier. Damals wie heute schafft er es immer wieder mich mit Sätzen umzuhauen, die so atemlos und hüstelnd machen wie der erste Joint, den er mir rüberreichte, an jenem Abend hinter der Aula. Er nennt mich seine kleine Schwester, obwohl ich älter bin als er.
Am nächsten Tag verabreden wir uns dazu, nach Vallisaari zur Biennali zu fahren. Wie Urlaub vom Urlaub, sagt B. auf der kleinen Fähre. Dort nehmen wir an einer Audioperformance von Meiju Niskala teil. It Occured to Me, But a Bit Too Late. Wir stehen auf einem Hügel auf der Insel, während wir über Kopfhörer Anweisungen erhalten, uns eine Stimme Fragen stellt zum Zustand der Welt. Wenn du glaubst, dass es in dreihundert Jahren noch Menschen auf der Erde geben wird, hebe deine Hand. Niemand hebt die Hand, alle blicken sich um, für einen Moment bleibt die Insel komplett still, kein Grillenzirpen, kein Windrauschen, nichts. Später stehen wir im Souvenirshop der Insel und B. sagt, dass es wohl nicht das Schlimmste ist, wenn die Menschen aussterben, endlich, so für das große Ganze. An den Wänden überall Poster und Postkarten mit Quellwolken über offenem Meer, Sonnenuntergänge als Glutwunden, auf die er jetzt zeigt und sagt: Drama gibt’s auch ohne uns. Ja, sage ich. Aber ich denke auch daran, dass ich in letzter Zeit so ein Gefühl habe, irgendwas, was ich nicht abschütteln kann, was sich da über den Winter angesammelt hat. Ich sage: Ich fühle mich so alt, B., so alt. Und es ist nicht das, was ich meine, aber vielleicht das, was am nächsten herankommt an das, was da jetzt als Ahnung irgendwo festklebt im Kopf. B. knufft mich in die Seite und lacht.
Gut, ein neuer Versuch.
Ich sage ihm, dass da alles ausradiert ist vor Corona, dass das eine Zäsur ist irgendwie, ich mich an nichts mehr erinnern kann, was vorher passiert ist. Oder wenn, dann nur so, als wäre es nicht mir passiert, sondern als hätte ich darüber gelesen, es gesehen, beobachtet bei irgendwem. Dass das meine Antwort ist auf die Frage von vorhin. Ob das nicht einfach was mit älter werden zu tun hat, fragt B. Irgendwann liegen eben nicht nur zwei Jahre dazwischen oder fünf, sondern zehn oder zwanzig und man alles mehr und mehr vergisst. Er sagt: Wir werden eben älter. Ja, sage ich, aber alles, meine ich, einfach alles davor, wie ausradiert. Und dass sich das komisch anfühlt, so zu leben, ohne Vergangenheit, ohne dass man etwas wirklich erlebt hat, sondern nur irgendwie dabei war. Dass ich das noch nie so hatte, erst seit jetzt so fühle, seit ein paar Wochen. Er sagt: Aber du hast doch was erlebt. Ja, aber eben nur so als hätte ich – vergiss es, sage ich, scheinbar vielleicht, sage ich nicht, aber schreibe es jetzt hier. Und es ist nicht das, was ich meine, aber vielleicht das, was sich gerade noch sagen lässt. Das hat auch was mit Vermissen zu tun, sage ich, aber was ich eigentlich meine ist: Verpassen. Aber natürlich sage ich das nicht. Ich sage, ich muss pinkeln, und gehe in das kleine Café neben dem Shop. Im Spiegel über dem Waschbecken sehe ich ein maushaftes Gesicht, lasse so lange Wasser über meine Handgelenke laufen, bis ich glaube, es ist genug Zeit vergangen, um wieder nach draußen zu gehen.
Wie gefühlt immer, wenn ich länger weg von zuhause bin, vermisse ich jemanden, von dem ich weiß, dass ich ihn nie wiedersehen werde. Ich weiß es immer schon, in dem Moment, in dem ich aufbreche, mich in den Zug setze, in ein Flugzeug steige, wie vergangene Woche auf ein Schiff. Manchmal glaube ich, Vermissen nimmt so viel Zeit in meinem Leben ein, dass ich kaum etwas anderes mache. Ich vermisse beim Duschen morgens, abends vorm Einschlafen, wenn ich Wäsche aufhänge, während B. und ich jetzt hier abends auf einem Steg Richtung Helsinki blicken, immer. Ich vermisse es, klein zu sein, ein Kind, und ich vermisse das Geräusch von Rasenmähern im Hitzesommer, den Geruch von sämtlichen U-Bahnen, mit denen ich gefahren bin, ich vermisse Sacramento-Winde in den 70ern, den Geschmack von Ikea-Keksen in Pfefferminztee getaucht, den Moment, wenn P.s Finger in mich fahren, ich vermisse die kleinsten, die unwahrscheinlichsten Sachen und kann sie nicht mehr auseinanderhalten. Das heißt: Ich kann nicht mehr auseinanderhalten, was davon wirklich passiert ist oder passiert und wenn ja, in welcher Reihenfolge. Ob ich erst vermisse oder erst in einen Zug steige, ein Flugzeug, auf ein Schiff. Das Wissen, dass das irgendwie gefährlich ist, weil Nostalgie niemandem was bringt. Der Gedanke, dass es schön wäre, irgendwas zu sammeln, etwas, das nur zum Sammeln da ist. Sich einen Spleen aneignen. Ich habe mal von einem Professor gelesen, der täglich auf einen Stuhl steigt, einfach nur, um sich zu beweisen, dass er diese Aufgabe ausführt, täglich steigt er auf diesen Stuhl und wieder herunter, sowas. Sowas will ich mir zulegen, eine Sache, einen Moment, nur für mich, etwas was keinen Sinn hat, außer für mich da zu sein, heimlich, ein kleines Geheimnis zu sein, das mich nie mehr verlässt.
Alles Sachen, von denen ich B. nichts erzähle, klar.
Zwei Tage später nehmen wir den Nachtzug nach Norden. Wir freuen uns erst über die kleine Dusche in unserer Kabine, dann verschlafen wir und benutzen sie nicht. Das Bahnhofscafé in Rovaniemi, in dem wir auf den Mietwagen warten, sieht aus wie ein amerikanisches Diner, selbst Kaffeekannen gibt es, für den unendlichen Refill. Postkarten mit halbnackten Santa Clauses, Männer in diesen breiten Baseballcaps sitzen auf Rotlederbänken, Holz, draußen vorm Fenster Industrie. Ich sage B., dass ich das liebe und er nickt mit dem Kopf gen links, wo ein mittelaltes Pärchen in Hoodies von einer Eishockeymannschaft sitzt, zieht die Brauen hoch dabei und ich muss lachen.
Wir haben ein Haus für acht Personen gebucht, zu zweit. Einmal, weil wir erst in letzter Sekunde gebucht haben und es keine kleineren Mökkis mehr gab; und dann dachten wir, ein Wiedersehen wäre auch ein guter Grund sich zu spoilen, dass ein bisschen zu feiern, so ein Wiedersehen, bei dem noch alles beim Alten ist. Als wir auf das Gelände vom Haus fahren, steht dort ein Finnland-Klischee. Das Rentier bewegt sich auch dann nicht vom Fleck, als wir die Türen vom Auto zuknallen, auch dann nicht als wir über den Schotter der Einfahrt laufen, auch dann nicht, als wir nur fünf Meter entfernt von ihm stehen. Verrückt, sagt B., und zeigt auf das Haus, was eigentlich aus drei Häusern besteht: Haupthaus, Grillhaus, Saunahaus, selbst ein Paddelboot ist da. Wir brauchen drei Stunden, um den Ofen der Sauna zu befeuern. Ich frage mich kurz, ob wir uns beide komplett ausziehen, aber dann ist B. plötzlich schon nackt. Es ist überhaupt nicht komisch, auch wenn es mir auffällt, dieser Moment – wann war das zum letzten Mal? Das letzte Mal, dass ich mit jemandem allein und nackt in einem Raum war, ohne dass da die Erwartung im Raum hängt, dass gleich was passiert.
Der See liegt als Spiegelfläche vor uns, Cirruswolken in Streifen zeichnen sich ab, darunter, dahinter, nur Schwarz, ahnen wir, wissen wir. Es ist das, was Angst vor Tiefen macht: Eben nicht, dass sich hinter der Fläche Gefahr verbirgt, sondern da schlicht und einfach gar nichts sein könnte. Wir sitzen in unsere Handtücher gewickelt auf dem Steg, Restwärme dampft ab von uns, B. wirft einen Ast in eine der Wolkenstreifen und der Spiegel zerbricht. Ohne die Erwartung, dass gleich was passiert. Das liebe ich an B.: Dass es gerade nichts zu verpassen gibt.
Als ich zuhause ankomme, in Deutschland, ist in meinem Briefkasten eine Postkarte. Das Bild von dramatischen Wolken, einer Insel im Wasser, Licht, das bricht. Darauf steht: Ich hab sie gekauft, als du auf Toilette warst, erinnerst du dich? B.
Ich liebe, dass er Überraschungsbesuche macht, einfach so.
Vor zwei Tagen hatte er mir geschrieben, dass er in der Stadt sein würde und ob ich Zeit hätte, und jetzt sitzen wir hier auf dem Bürgersteig vor dem Sinebrychoffinpuisto und schauen auf nichts als Backstein. Ich, weil ich es nicht aushalte, B. ins Gesicht zu gucken, er, weil es ihm vielleicht genauso geht, wer weiß. Als wir uns letztes Jahr gesehen haben, hat er erst nach Stunden mit der Sprache rausgerückt, in Nebensätzen, so dass ich es nicht sofort verstanden und mich danach gefühlt habe, als hätte er mich zu einer Komplizin gemacht für etwas, was eigentlich so nicht sein darf. So als hätte ich ihm da, ebenfalls nebenbei, einfach so, versehentlich eine Absolution erteilt. Der Arzt habe ihm gesagt, noch fünf Jahre mit diesem Herz, wenn er nicht aufhört zu rauchen, wenn er nicht aufhört doppelte Schichten zu schieben. Und ich habe letztes Jahr nichts dazu gesagt, so wie ich auch jetzt nichts dazu sage, hier auf diesem Bürgersteig, während ich auf Hauswände starre, auf seine Hände, auf meine Hände, wie wir uns eine Zigarette nach der nächsten drehen. Ich glaube, dass ich die einzige bin, der er von diesem Arztbesuch erzählt hat, und langsam verstehe ich auch warum.
B. und ich kennen uns noch aus der Grundschule und haben auch dann noch fast jeden Tag was miteinander verbracht, als wir nach der vierten Klasse getrennt wurden, als er mit sechzehn seinen Abschluss machte, war ich sein +1 auf der Feier. Damals wie heute schafft er es immer wieder mich mit Sätzen umzuhauen, die so atemlos und hüstelnd machen wie der erste Joint, den er mir rüberreichte, an jenem Abend hinter der Aula. Er nennt mich seine kleine Schwester, obwohl ich älter bin als er.
Am nächsten Tag verabreden wir uns dazu, nach Vallisaari zur Biennali zu fahren. Wie Urlaub vom Urlaub, sagt B. auf der kleinen Fähre. Dort nehmen wir an einer Audioperformance von Meiju Niskala teil. It Occured to Me, But a Bit Too Late. Wir stehen auf einem Hügel auf der Insel, während wir über Kopfhörer Anweisungen erhalten, uns eine Stimme Fragen stellt zum Zustand der Welt. Wenn du glaubst, dass es in dreihundert Jahren noch Menschen auf der Erde geben wird, hebe deine Hand. Niemand hebt die Hand, alle blicken sich um, für einen Moment bleibt die Insel komplett still, kein Grillenzirpen, kein Windrauschen, nichts. Später stehen wir im Souvenirshop der Insel und B. sagt, dass es wohl nicht das Schlimmste ist, wenn die Menschen aussterben, endlich, so für das große Ganze. An den Wänden überall Poster und Postkarten mit Quellwolken über offenem Meer, Sonnenuntergänge als Glutwunden, auf die er jetzt zeigt und sagt: Drama gibt’s auch ohne uns. Ja, sage ich. Aber ich denke auch daran, dass ich in letzter Zeit so ein Gefühl habe, irgendwas, was ich nicht abschütteln kann, was sich da über den Winter angesammelt hat. Ich sage: Ich fühle mich so alt, B., so alt. Und es ist nicht das, was ich meine, aber vielleicht das, was am nächsten herankommt an das, was da jetzt als Ahnung irgendwo festklebt im Kopf. B. knufft mich in die Seite und lacht.
Gut, ein neuer Versuch.
Ich sage ihm, dass da alles ausradiert ist vor Corona, dass das eine Zäsur ist irgendwie, ich mich an nichts mehr erinnern kann, was vorher passiert ist. Oder wenn, dann nur so, als wäre es nicht mir passiert, sondern als hätte ich darüber gelesen, es gesehen, beobachtet bei irgendwem. Dass das meine Antwort ist auf die Frage von vorhin. Ob das nicht einfach was mit älter werden zu tun hat, fragt B. Irgendwann liegen eben nicht nur zwei Jahre dazwischen oder fünf, sondern zehn oder zwanzig und man alles mehr und mehr vergisst. Er sagt: Wir werden eben älter. Ja, sage ich, aber alles, meine ich, einfach alles davor, wie ausradiert. Und dass sich das komisch anfühlt, so zu leben, ohne Vergangenheit, ohne dass man etwas wirklich erlebt hat, sondern nur irgendwie dabei war. Dass ich das noch nie so hatte, erst seit jetzt so fühle, seit ein paar Wochen. Er sagt: Aber du hast doch was erlebt. Ja, aber eben nur so als hätte ich – vergiss es, sage ich, scheinbar vielleicht, sage ich nicht, aber schreibe es jetzt hier. Und es ist nicht das, was ich meine, aber vielleicht das, was sich gerade noch sagen lässt. Das hat auch was mit Vermissen zu tun, sage ich, aber was ich eigentlich meine ist: Verpassen. Aber natürlich sage ich das nicht. Ich sage, ich muss pinkeln, und gehe in das kleine Café neben dem Shop. Im Spiegel über dem Waschbecken sehe ich ein maushaftes Gesicht, lasse so lange Wasser über meine Handgelenke laufen, bis ich glaube, es ist genug Zeit vergangen, um wieder nach draußen zu gehen.
Wie gefühlt immer, wenn ich länger weg von zuhause bin, vermisse ich jemanden, von dem ich weiß, dass ich ihn nie wiedersehen werde. Ich weiß es immer schon, in dem Moment, in dem ich aufbreche, mich in den Zug setze, in ein Flugzeug steige, wie vergangene Woche auf ein Schiff. Manchmal glaube ich, Vermissen nimmt so viel Zeit in meinem Leben ein, dass ich kaum etwas anderes mache. Ich vermisse beim Duschen morgens, abends vorm Einschlafen, wenn ich Wäsche aufhänge, während B. und ich jetzt hier abends auf einem Steg Richtung Helsinki blicken, immer. Ich vermisse es, klein zu sein, ein Kind, und ich vermisse das Geräusch von Rasenmähern im Hitzesommer, den Geruch von sämtlichen U-Bahnen, mit denen ich gefahren bin, ich vermisse Sacramento-Winde in den 70ern, den Geschmack von Ikea-Keksen in Pfefferminztee getaucht, den Moment, wenn P.s Finger in mich fahren, ich vermisse die kleinsten, die unwahrscheinlichsten Sachen und kann sie nicht mehr auseinanderhalten. Das heißt: Ich kann nicht mehr auseinanderhalten, was davon wirklich passiert ist oder passiert und wenn ja, in welcher Reihenfolge. Ob ich erst vermisse oder erst in einen Zug steige, ein Flugzeug, auf ein Schiff. Das Wissen, dass das irgendwie gefährlich ist, weil Nostalgie niemandem was bringt. Der Gedanke, dass es schön wäre, irgendwas zu sammeln, etwas, das nur zum Sammeln da ist. Sich einen Spleen aneignen. Ich habe mal von einem Professor gelesen, der täglich auf einen Stuhl steigt, einfach nur, um sich zu beweisen, dass er diese Aufgabe ausführt, täglich steigt er auf diesen Stuhl und wieder herunter, sowas. Sowas will ich mir zulegen, eine Sache, einen Moment, nur für mich, etwas was keinen Sinn hat, außer für mich da zu sein, heimlich, ein kleines Geheimnis zu sein, das mich nie mehr verlässt.
Alles Sachen, von denen ich B. nichts erzähle, klar.
Zwei Tage später nehmen wir den Nachtzug nach Norden. Wir freuen uns erst über die kleine Dusche in unserer Kabine, dann verschlafen wir und benutzen sie nicht. Das Bahnhofscafé in Rovaniemi, in dem wir auf den Mietwagen warten, sieht aus wie ein amerikanisches Diner, selbst Kaffeekannen gibt es, für den unendlichen Refill. Postkarten mit halbnackten Santa Clauses, Männer in diesen breiten Baseballcaps sitzen auf Rotlederbänken, Holz, draußen vorm Fenster Industrie. Ich sage B., dass ich das liebe und er nickt mit dem Kopf gen links, wo ein mittelaltes Pärchen in Hoodies von einer Eishockeymannschaft sitzt, zieht die Brauen hoch dabei und ich muss lachen.
Wir haben ein Haus für acht Personen gebucht, zu zweit. Einmal, weil wir erst in letzter Sekunde gebucht haben und es keine kleineren Mökkis mehr gab; und dann dachten wir, ein Wiedersehen wäre auch ein guter Grund sich zu spoilen, dass ein bisschen zu feiern, so ein Wiedersehen, bei dem noch alles beim Alten ist. Als wir auf das Gelände vom Haus fahren, steht dort ein Finnland-Klischee. Das Rentier bewegt sich auch dann nicht vom Fleck, als wir die Türen vom Auto zuknallen, auch dann nicht als wir über den Schotter der Einfahrt laufen, auch dann nicht, als wir nur fünf Meter entfernt von ihm stehen. Verrückt, sagt B., und zeigt auf das Haus, was eigentlich aus drei Häusern besteht: Haupthaus, Grillhaus, Saunahaus, selbst ein Paddelboot ist da. Wir brauchen drei Stunden, um den Ofen der Sauna zu befeuern. Ich frage mich kurz, ob wir uns beide komplett ausziehen, aber dann ist B. plötzlich schon nackt. Es ist überhaupt nicht komisch, auch wenn es mir auffällt, dieser Moment – wann war das zum letzten Mal? Das letzte Mal, dass ich mit jemandem allein und nackt in einem Raum war, ohne dass da die Erwartung im Raum hängt, dass gleich was passiert.
Der See liegt als Spiegelfläche vor uns, Cirruswolken in Streifen zeichnen sich ab, darunter, dahinter, nur Schwarz, ahnen wir, wissen wir. Es ist das, was Angst vor Tiefen macht: Eben nicht, dass sich hinter der Fläche Gefahr verbirgt, sondern da schlicht und einfach gar nichts sein könnte. Wir sitzen in unsere Handtücher gewickelt auf dem Steg, Restwärme dampft ab von uns, B. wirft einen Ast in eine der Wolkenstreifen und der Spiegel zerbricht. Ohne die Erwartung, dass gleich was passiert. Das liebe ich an B.: Dass es gerade nichts zu verpassen gibt.
Als ich zuhause ankomme, in Deutschland, ist in meinem Briefkasten eine Postkarte. Das Bild von dramatischen Wolken, einer Insel im Wasser, Licht, das bricht. Darauf steht: Ich hab sie gekauft, als du auf Toilette warst, erinnerst du dich? B.