Nevfel Cumart
Nevfel Cumart, geboren 1964, zählt mit 18 Gedichtbänden zu den produktivsten Lyrikern seiner Generation. Er studierte Turkologie, Arabistik, Iranistik und Islamwissenschaft in Bamberg und lebt dort seit 1992 freiberuflich als Schriftsteller, Übersetzer und Referent. Neben Lyrikbänden in Deutsch, Englisch und Türkisch veröffentlichte Cumart auch eine Sammlung mit Erzählungen, außerdem Prosabeiträge, Aufsätze und literarische Essays in Anthologien und Fachpublikationen.
Cumart übersetzte aus den Werken diverser türkischer Autoren und publizierte zahlreiche Aufsätze, Porträts und Rezensionen über die türkische Literatur der Moderne sowie über islamkundliche Themen. Als Herausgeber veröffentlichte er bislang 12 Anthologien. Seit 1992 leitet er die Literaturredaktion des Bamberger Stadtmagazins „Fränkische Nacht“ und schreibt für die Feuilletons der Zeitungen „Fränkischer Tag“ und „Nürnberger Nachrichten“.
Für sein literarisches Werk erhielt Cumart diverse Literaturpreise und Auszeichnungen, darunter auch den Kulturpreis Bayern (2008), den Kulturpreis der Oberfrankenstiftung (2009), den Pax-Bank-Preis (2011) sowie die Poetik-Professur der Universität Innsbruck (2012). In 2014 überreichte ihm Bundespräsident Gauck das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Cumart ist 1. Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Literatur Erlangen (NGL), Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland, in der europäischen Autorenvereinigung DIE KOGGE und im Vorstand des VS – Verband deutscher Schriftsteller Oberfranken. Er gehört dem Wissenschaftlichen Beirat der Georges-Anawati-Stiftung an, die sich für die Förderung des Dialogs zwischen Christen und Muslimen einsetzt.
Nevfel Cumart war im Oktober 2018 in Tampere auf Einladung des Goethe-Instituts als Stadtschreiber zu Gast.
Finnland-Tagebuch
Mein erster Satz in Finnland. Mein erster Satz als Residenzautor. Mein erster Satz als – Waise!
Vor einigen Tagen noch war ich in Adana. Im Süden der Türkei. In einer engen Seitenstraße am Rande der Stadt. Hier steht das kleine Haus meines Vaters. Hier begann seine Reise vor 57 Jahren, als er auf den Spuren des Brotes in die Fremde ging – nach Almanya. Nach Deutschland.
Deutschland – für mich die Heimat. Für meinen Vater immer Arbeitsland, meist Sehnsuchtsland, oft Bitterland, manchmal Hoffnungsland, kaum Glücksland, ewig lange Fremdesland. Als er dorthin aufbrach damals, konnte er nicht ahnen, daß er nicht wieder zurückkehren würde. Bis zu seinem Tod.
In Deutschland lernte er die Farben der Fremde kennen, sah er zum ersten Mal Schnee und Eis. Dort kamen drei seiner Kinder auf die Welt. Dort schweißte er fleißig Rohre bei Tag und bei Nacht. Dort verlor er einen seiner Söhne und seine Ehefrau an den Tod. Dort erhielt er seine kärgliche Invalidenrente. Sein Grab aber sollte in der Türkei sein. In der Heimaterde. Das war sein Wunsch. Also endet die Reise für ihn in dieser engen Seitenstraße, wo sie alle Abschied nehmen von ihm.
Sieben Tage und sieben Nächte Trauerfeiern. Allein am siebten Tag haben wir nach der Koranrezitation 600 Essenspakete verteilt. Alles spielte sich draußen in der stickigen Gasse ab. 37 Grad Hitze. Kaum Schatten. Ständig Trauergäste. Unzählige Menschen von früh bis spät. Viele bleiben stundenlang, manche den ganzen Tag. Cousins und Cousinen von mir, die jeden Tag kommen und bleiben. Zahllose andere Verwandte, die ich gar nicht kenne. Menschen aus der Nachbarschaft, aus der Umgegend. Und jeder fragt nach mir. Als ältester Sohn hast Du ständig präsent zu sein, mußt Du die Familie vertreten. Jeder will Dir die Hand drücken, jeder will seine Anteilnahme ausdrücken. Keinen Augenblick bist Du allein. Keine Zeit, kein Raum zum Trauern. Und an Schlaf ist auch nicht zu denken. Wegen der Hitze, wegen des Lärms, wegen der Gedanken, wegen der Trauer.
Das war meine erste Beerdigung in der Türkei. Nach islamischem Ritus muß die Beerdigung innerhalb von 24 Stunden erfolgen. Also umgehend! Vor 15 Jahren konnte ich nicht rechtzeitig zur Beerdigung meiner Mutter anreisen. Das werfen mir die Verwandten heute noch vor. Auch auf der Beerdigung meines Vaters. „Als Deine Mutter starb…wo warst Du damals?“ Dieser Vorwurf wird mich wohl noch bis an mein Lebensende verfolgen...
Nun bin ich also in Tampere angekommen. In diesem kleinen Holzhaus am Rande des Waldes. Angekommen in der Stille, in der Abgeschiedenheit. Angekommen ohne meinen Vater. Dafür mit viel Trauer im Herzen. Ob mich hier Inspirationen und Verse finden werden, ist ungewiß. So ist es bei einem Dichter. Gewiß aber werden mich die angestauten Tränen finden. So ist es bei einem Sohn!
Die Studentinnen und Studenten führten mich aus in eine Kneipe, in der sie häufiger verkehrten. Es wurde ein anregender Abend mit vielen Gesprächen und ebenso viel (oder vielleicht auch mehr) Bier. Und zu guter Letzt mußte ich unter den Augen der jungen Leute ein Getränk zu mir nehmen, um gänzlich in Finnland anzukommen: Lakritzschnaps. (Leider weiß ich nicht mehr, wie dieser sehr gewöhnungsbedürftige Schnaps heißt!).
Zwei Tage später holte mich Mikko an der Universität ab und führte mich in eine sehr berühmte Männer-Sauna aus. Ich glaube, es war die älteste Sauna in Helsinki und lag an einem See. (Leider kann ich mich auch nicht an diesen Namen erinnern!) Draußen war es frostig kalt, es stürmte und regnete. Drinnen stürzte ich mich in das Geschehen und absolvierte alle Saunagänge und stieg zwischendurch auch in das eiskalte Wasser des Sees. Mit dem Ergebnis, daß ich später am Tag bei der Podiumsdiskussion an der Universität weitaus „entspannter“ gewesen bin als es mir lieb gewesen wäre…
Und auch dieses Mal gab es eine feste Verabredung, bevor ich nach Finnland aufbrach, um meine Zeit als Residenzautor anzutreten. Nina, die Leiterin des Deutschen Kulturzentrums in Tampere, hatte vorgeschlagen, am Samstag mit ihr und ihren Töchtern einen Ausflug von Helsinki nach Tallinn zu machen. Ich war noch nie in Estland und mag es zudem, auf dem Meer zu sein. Also fuhren wir mit der Fähre „Star“, die eher einem kleinen Kreuzfahrtschiff ähnelte, nach Tallinn. Gemeinsam mit einigen hundert anderen Menschen.
In Tallinn erwarteten uns leider Regen und eine recht leere hübsche Altstadt, die mit etwas Sonne sicher viel einladender gewirkt hätte. Wir ließen uns vom Regen nicht abschrecken, erkundeten die vielen Gassen in der Altstadt, machten einige Fotos (ich unprofessionell mit dem Handy, Nina sehr professionell mit einer gescheiten Kamera!), besuchten ein kleines Museum und kehrten später in einer kleinen Pizzeria ein, damit die Kinder sich den Magen füllen konnten.
Am Abend ging es dann wieder zurück nach Helsinki. Unsere Fähre hatte sich gesteigert und hieß nun „Megastar“. Mehr Platz, mehr Restaurants, mehr Bars und mehr Menschen als auf der Hinfahrt. Und mehr Alkohol! Ich habe selten in meinem Leben so viele Männer und Frauen an Tischen sitzen und Alkohol trinken sehen wie auf der „Megastar“! Und ebenso selten habe ich gesehen, daß so viele Männer (und auch Frauen) Alkohol kaufen. Palettenweise Bierdosen. Kartons voll mit Vodka- und Whiskyflaschen und anderem Alkoholika. Einige transportieren ihre Einkäufe mit eigenen Sackkarren direkt zum Auto auf dem unteren Deck. (Andere verließen später vollbeladen mit ihren vollen Taschen und Einkaufswagen und auch Sackkarren das Schiff. Einige torkelten dabei….)
Alle halbe Stunde wurde über Lautsprecher der Duty-free-Verkauf mit vielen tollen Sonderaktionen angepriesen und jedes Mal hervorgehoben, daß fast das gesamte Deck 8 aus Duty-free-Shops bestehe. Als die letzte Ansage vor der Ankunft in Helsinki kam, überkam mich dann doch eine Neugier. Ich überlegte, vielleicht eine Flasche Whisky zu kaufen. Vielleicht für mich, für die Abende in meiner Dichterklause in Tampere. Oder als Geschenk für einen Freund. Also ab in den Duty-free. Mit Preisen für Schokolade, Parfüms und Kosmetika kenne ich mich gar nicht aus. Aber die Preise für einige Whiskymarken kenne ich ganz gut. Immerhin ist mein Freund Wolf ein echter Whisky-Experte mit einer riesigen Sammlung von diesem „Lebenswasser“. Und ich bin immer ein guter Zuhörer, wenn er von Whiskys und deren Geschmack und Preisen erzählt.
In der Duty-free-Arena auf der „Megastar“ war der gute alte irische „Jameson“, den man jeden Tag trinken kann, im Sale! 20 Prozent Rabatt! Und kostete doppelt so viel wie in Deutschland! Für die Finnen aber nur halb so viel wie in Helsinki, wie ich noch an Bord erfahren habe. Ich bin nicht sehr gut in Mathematik. Aber wenn ich mich nicht irre, kostet diese Flasche Whisky dann in Helsinki vier mal so viel wie in Deutschland! Kein schlechter Grund für einen Dichter, vier Wochen lang keinen Whisky zu trinken…
Das war meine erste Frage an das Publikum, noch bevor ich mich vorstellte. Nachdem Nina zur Sicherheit meine beiden Sätze ins Finnische übersetzt hatte, lachten die Damen. Und weil nur Damen zur Lesung gekommen waren, lachte also das gesamte Publikum!
Wir befanden uns im Cafe des Buchmuseums „Pukstaavi“ in Sastamala und das war der Auftakt für eine wunderbar entspannte Lesung in einer sehr gemütlichen Atmosphäre. Ich trug meine Gedichte auf Deutsch und auf Englisch vor. Nina übersetzte meine spontanen Erzählungen und Übergänge zwischen den Gedichten, die Fragen der Damen und auch meine Antworten. (Und ich achtete sorgsam darauf, nur kurze Sätze zu verwenden, um ihr das Leben als Übersetzerin nicht schwer zu machen….)
Vor der Lesung hatte mich Pama Alavilo, die Leiterin des Museums, durch die sehr liebevoll dekorierte und klug aufgebaute Ausstellung im Obergeschoß geführt. Und wahrscheinlich hat sie sich dabei gewundert, daß ich so lange bei den längst vergessenen Setzkästen stehenbleiben wollte. Denn was sie nicht ahnen konnte: Ich kannte solche Setzkästen, in denen in der Handsetzerei die Lettern eines Schriftschnitts in einer Schriftgröße aufbewahrt wurden, sehr gut aus eigener Anschauung. In der Druckerei meines Onkels Vehbi habe ich oft zugeschaut, wie auf alten und laut ächzenden Heidelberg-Druckmaschinen einzelne Seiten oder Visitenkarten gedruckt wurden. Und vorher wurden im Handsatz die Buchstaben einzeln und manuell gesetzt. Das war zu einer Zeit, als das Wort „Digitaldruck“ noch gar nicht existierte!
Nach der Lesung kehrten wir bei Nina daheim ein. Ihr gelang es auf wunderbare Weise, in kurzer Zeit sehr schmackhafte Spaghettis mit Avocado und Käse auf den Tisch zu bringen und mich zudem mit kaltem Bier zu versorgen. Mir gelang es leider nicht, ihren Kamin im Eßzimmer anzuschüren! Nach vier oder fünf Versuchen gab ich es auf…
Später am Abend, als ich in meinem Zimmer in der Pension (oder war es vielleicht doch ein Hotel? Sicher ist nur, dass ich der einzige Gast war…) spürte ich die Auswirkungen des starken Biers. Und als ich im Bett lag, spürte ich auch die Nachwirkungen der Führung durch das Museum: So viele Erinnerungen kamen in mir hoch an die Druckerei meines Onkels Vehbi. In den Sommerferien, die ich als Jugendlicher immer mit meiner Familie in Adana verbrachte, war die alte, stickige und kleine Druckerei mein zweites Zuhause. Besonders in den Jahren vor und nach dem Militärputsch 1980, als sehr viel Unruhe herrschte und vom Militär oft Ausgangssperren verhängt wurden, verbrachte ich viele Tage von morgens bis abends in der Druckerei meines Onkels.
Diese Druckerei stand schon ewig. Ein blutiger Weltkrieg, drei Militärputsche, eine schmutzige Scheidung, vier infame Söhne, zwei verheerende Erdbeben – sie alle konnten die Druckerei nicht vernichten! Hier arbeitete ich mit, falzte Kartons, schnitt Papier, sortierte Blätter und bekam sogar „Lohn“. Hier lernte ich die Stunden zählen und gewann die Achtung vor dem Papier! (Seit dieser Zeit habe ich nie in meinem Leben Papier verschwendet!) Und abends aß ich mit meinem Onkel die leckeren Vorspeisen seiner Frau und trank mit ihm Anisschnaps. (Und ich muß gestehen, daß mir Raki besser schmeckt als der finnische Lakritzschnaps).
Mein Onkel Vehbi trank jeden Abend. Soweit ich weiß wirklich jeden Abend! Vermutlich lag es an diesem massiven Alkoholkonsum, daß er eines Tages an Leberzirrhose starb und die Druckerei zurückließ. Und er hinterließ ein handgebundenes Buch, darin die Geschichte seines Lebens, geschrieben mit schwieliger Hand und in solch einer schönen Schrift, die jeden Kalligraphen zwischen Istanbul und Abu Dhabi beschämen würde!
Hier ein Gedicht, das an die Druckerei meines Onkels Vehbi erinnert und daran, wie kostbar Papier für manche Menschen sein kann:
achtung
in der druckerei
meines onkels
wurde nicht
ein fingerbreit
papier verschwendet
weil es teuer ist
sagte der teejunge
weil es aus holz ist
sagte der lehrling
weil es uns brot gibt
sagte der geselle
weil es unsere seele ist
sagte mein onkel
Diesen Satz spreche ich von ganzem Herzen aus und blicke die Jugendlichen im Publikum an.
Es ist meine zweite Lesung am Klassischen Gymnasium in Tampere. Bei der ersten Lesung vorgestern waren es über vierzig Schülerinnen und Schüler gewesen. Bei dieser Lesung sind es einige weniger. Sie sitzen da vor mir in vier halbgeschwungenen Stuhlreihen. Ganz brav. Ganz ruhig. Ganz still. Lammfromm. (Denkt jetzt jemand zufällig bei dem Titel dieses Beitrags an den Thriller „Das Schweigen der Lämmer“?).
Ich würde mir zwar etwas mehr Lebendigkeit und Beteiligung wünschen (die dann zaghaft in der zweiten Hälfte der Lesung kamen), genieße aber einstweilen die Ruhe im Saal. Genieße es, nicht so laut reden zu müssen. Es genügt, die Gedichte und meine Erzählungen zwischendurch in normaler Zimmerlautstärke vorzutragen bzw. zu sprechen. Und ich genieße es, entspannt am Tisch sitzen bleiben zu können. Die einzige größere Anstrengung ist, meine Sätze und Erzählungen blitzschnell im Kopf auf ein einfacheres Sprachlevel herunter zu brechen. Denn von Laura, der Deutschlehrerin, habe ich zuvor erfahren, dass diese Jugendlichen noch keine Fortgeschrittenen sind. Das ist aber auch das einzig Anstrengende bei dieser sehr entspannten Lesung.
Wenn ich da an so manche andere Veranstaltung an Schulen in Deutschland denke… Wenn ich an sogenannten Schulen in sozialen Brennpunkten lese, dann habe ich manchmal das Gefühl, daß ein Großteil meiner Energie dafür draufgeht, für Ruhe zu sorgen und die Jugendlichen bei der Stange zu halten. Manchmal komme ich mir vor wie ein Dompteur, der eine Gruppe von kleinen (manchmal auch großen) Löwen und Tigern bändigen muß. Und da ich sehr häufig an solche Schulen eingeladen werde, freue ich mich besonders, wenn ich zwischendurch mal an einem katholischen Mädchengymnasium lese, wo es in der Regel sehr ruhig und gesittet zugeht. Oder aber am Klassischen Gymnasium in Tampere.
Ich weiß, daß ein Teil der Ruhe im Publikum daher rührt, daß die Jugendlichen nicht so gut Deutsch sprechen können. Doch ich weiß auch, daß selbst wenn sie sehr gut Deutsch könnten, die Lesung dennoch weitaus ruhiger verlaufen würde als an den meisten deutschen Schulen. Denn die Finnen sind ja (Achtung! Jetzt kommt ein Stereotyp!) generell ruhige Menschen, die auch gerne mal schweigen.
Apropos Stereotypen : Ich arbeite gelegentlich mit Stereotypen, so wie viele andere Lehrende auch. Wenn ich in meinen Lehrveranstaltungen zur Interkulturellen Kommunikation meinen Studentinnen und Studenten nach intensiven Arbeitseinheiten etwas Entspannung (und einige Lacher) gönnen möchte, erzähle ich zwischendurch etwas über unterschiedliche Kulturkategorien, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Etwa in den kulturellen Bereichen der Raumorientierung, also das Verhalten in Bezug auf Nähe und Distanz, oder aber der Zeitorientierung.
So unterschiedlich kann die Einstellung zur Zeit sein: Vor vielen Jahren studierte ich in Kairo und lebte mit dem jemenitischen Doktoranten Abbas unter einem Dach. Er verabredete sich einmal mit mir mit dem folgenden Satz: „Mein lieber Bruder Naufal, lass uns morgen um 10 Uhr am Midan Tahrir treffen und einen Kaffee trinken. Wenn ich bis um 11 Uhr nicht da bin, dann warte bitte bis um 12 und gehe um 13 Uhr…“
Oder ich erzähle über interkulturelle Mißverständnisse, die durch non-verbales Verhalten hervorgerufen werden können und gebe einige Beispiele. Das Kopfnicken der Chinesen bei Verhandlungsgesprächen und Präsentationen ist solch ein Beispiel. (Das keineswegs eine Zustimmung signalisiert, sondern nur ein Zuhören bekundet). Das Lächeln der Japaner, wenn der Gesprächspartner von einem Trauerfall in der Familie spricht. (Das keineswegs eine Pietätslosigkeit darstellt…). Oder eben auch das Schweigen der Finnen, das keineswegs ein Desinteresse bekundet. (Aber einen spanischen oder kolumbianischen Gesprächspartner sicher in den Wahnsinn treiben könnte)
Wenn ich tief in mich hinein horche, dann muß ich zugeben, daß ich zwischendurch auch gerne schweige. Da bin ich wahrscheinlich kein typischer Türke. (So, jetzt ist Schluß mit Stereotypen!). Vielleicht hängt es auch damit zusammen, daß ich ständig vor einem Publikum stehe (oder sitze wie in Tampere) und sprechen muß, daß ich im privaten Kreis oft auch gerne schweige. Oder damit, daß ich gerne anderen Menschen zuhöre. Oder damit, daß ich mich seit einiger Zeit intensiv mit dem Buddhismus beschäftige und meditiere. (Und in einem Kurs über Achtsamkeit auch mal einen ganzen Tag lang schweigen muß.)
Apropos Meditation: Achtsamkeit und Gewahrsein sind die Grundpfeiler der buddhistischen Geistesschulung. Deswegen fasste der Buddha Shakyamuni vor 2500 Jahren die Quintessenz seiner gesamten Lehre mit folgendem Satz zusammen: „Im Sehen ist nur das Gesehene, im Hören ist nur das Gehörte, im Berühren ist nur das Berührte, im Riechen ist nur das Gerochene…“ Finnland war damals wie heute sehr weit weg von Indien, wo der Buddha Shakyamuni erwachte und danach 45 Jahre lang lehrte. Für finnische Buddhisten würde er wohl heute noch einen Zusatz haben: „Im Schweigen ist nur das Geschwiegene“!
Diesen türkischen Satz kann man so ins Deutsche übersetzen: „Kapitän, an einer passenden Stelle!“
Aber der, dem dieser Satz gilt, ist kein Kapitän! Er steht nicht hinter dem Steuerrad eines Kutters oder Schiffes. Und er wird auch nicht dazu aufgefordert, den Anker einer Yacht an einer schönen Stelle in der Bucht auszuwerfen. Oder aber ein Boot an einer geeigneten Stelle am Steg anzulegen. Dieser kurze Satz, der oft beiläufig, manchmal spontan und immer von hinten kommt, gilt dem Fahrer, der hinter einem Lenkrad sitzt. Mit diesem Satz wird er gebeten, bei Gelegenheit an einer passenden Stelle am Straßenrand kurz rechts ranzufahren, damit man aussteigen kann. Aussteigen aus einem Dolmusch, einem Sammeltaxi. (Eine unglückliche Übersetzung, aber eine bessere fällt mir im Augenblick nicht ein…).
Ich kann mich noch sehr gut an diese Dolmusche erinnern in der Türkei. In meiner Jugend waren das immer alte amerikanische „Schlitten“ mit der Gangschaltung am Lenkrad: Dodge, Plymouth, Chevrolet oder Cadillac... Zum Teil waren sie im Innenraum etwas umgebaut. Und ob man es glaubt oder nicht: Ich bin in Adana auch schon mal mit einem alten Chevy gefahren (der mit den legendären Heckflossen), einem normalen amerikanischen Familienauto, in dem außer mir noch zehn andere Fahrgäste saßen! (Dagegen ist es ein Kinderspiel, auf einem Tuc-Tuc in Mumbai oder Bangkok mit vier Personen zu fahren….!)
Die Ära dieser alten Ami-Schlitten gehört längst der Vergangenheit an. Schon vor Jahren hat ein „Minibüs“, ein Kleinbus, den Platz eines Dolmusch eingenommen. Am Prinzip hat sich aber bis heute nichts geändert: Solch ein Dolmusch fährt eine bestimmte Route. Man kann als Fahrgast ein- und aussteigen wo man will. Haltestellen gibt es nicht. Wer aussteigen will, gibt Bescheid (siehe oben!). Und wer einsteigen will, streckt am Straßenrand kurz den Arm aus. Man zahlt selten direkt beim Fahrer. Wenn man sich hingesetzt hat, reicht man irgendwann, bevor man aussteigt, einem Fahrgast vor sich das Geld über die Schulter hin. Der reicht es dann einem anderen Fahrgast weiter nach vorne. Irgendwann erreicht das Geld den Fahrer, der es über die Schulter entgegen nimmt. Wenn es passend ist, dann ist alles gut. Wenn nicht, dann sucht er das entsprechende zusammen und reicht es wiederum über die Schulter an irgendjemanden hinter sich. Und der wiederum weiter nach hinten, bis das Wechselgeld da ist, wo es hin soll.
Wenn man wissen will, wie multifunktional ein Türke agieren kann, braucht man sich nur einen Dolmusch-Fahrer vor Augen zu führen: Er steuert einen kleinen Bus voller Fahrgäste, fährt ständig rechts ran und wieder weiter, macht die Türen auf und wieder zu, ruft ständig aus dem Fenster und der Tür, welche Route er fährt, nimmt das Fahrgeld entgegen und gibt Wechselgeld zurück - und seit einiger Zeit telefoniert er auch noch gleichzeitig auf seinem Smartphone….
Aber warum erzähle ich all das eigentlich? Weil mich das Busfahren in Tampere an meine Fahrten im Dolmusch erinnert hat! Allerdings nur an einem einzigen Punkt: So wie in der Türkei die Menschen am Straßenrand den Arm ausstrecken, damit der Dolmusch hält und sie mitnimmt, so machen das die Finnen hier in Tampere auch! Allerdings nicht am Straßenrand, sondern an einer echten Bushaltestelle! Manche machen das sogar ganz cool. Viele haben schon ihre Buskarte in der Hand, wenn sie ihren Arm ausstrecken. Bei manchen zeigt die Handinnenfläche nach links Richtung Bus und der Daumen ist leicht angehoben. Das sieht dann fast so aus, als ob sie per Anhalter fahren wollten.
Am Anfang hat mich das irritiert, als ich das aus dem Bus heraus gesehen habe bei meiner ersten Fahrt von meiner „Dichterklause“ in Haihara in die Innenstadt von Tampere. Das ist doch ein modernes europäisches Land, in dem alles so gut geregelt ist und Ordnung herrscht, dachte ich. Ich stehe an einer Bushaltestelle, die ganz klar und deutlich als solche ausgewiesen ist und wo sich oft auch ein kleines Haltehäuschen befindet. Aber dennoch: Wenn man den Arm nicht ausstreckt, dann hält der Bus nicht an, wird man nicht mitgenommen. Das haben mir zumindest einige Finnen gesagt, die ich in Tampere gefragt habe, um ja sicher zu gehen.
Und mittlerweile macht es mir echt Spaß: Sobald ich den Bus Nr. 10 erblicke, hole ich mit meiner rechten Hand ganz elegant meine aufladbare Buskarte aus der linken Brusttasche meiner dicken Helly-Hansen-Jacke und strecke meinen Arm aus. Ich schmunzele innerlich und blicke ganz entspannt dem Bus entgegen, denn ich weiß, daß der Fahrer anhalten und mich mitnehmen wird.