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Sollten Filme Position beziehen?
In many places the social and political situation is unsettled and turbulent. There is much discussion about the relationship between politics and art. Should filmmakers position themselves politically even more forcefully?
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Philipp Bühler - Deutschland: „Man sollte immer einen Standpunkt haben“, sagt Agnès Varda in ihrem neuen Film. Und die hat immer recht. Filmschaffende sollen sich einmischen, ihre Position klarmachen und sie in den Filmen nicht verraten. Ob man darum „politische“ Filme machen sollte, ist eine ganz andere Frage. Die Kunstfreiheit ist für mich politischer als alles andere. Eine überzeugende Balance fand ich zum Beispiel in La paranza dei bambini und in Grâce à dieu.
Sarah Ward - Australien: Die Politik kann in vielerlei Hinsicht die Kunst formen, und die Kunst hat wiederum viele Möglichkeiten, ein politisches Statement abzugeben. Diese Vielzahl an Ausdrucksformen ist enorm wichtig. So wird in God Exists, Her Name Is Petrunya offen die von Männern dominierte Kultur in Nordmazedonien satirisch zerlegt. Grâce à dieu beschäftigt sich mit dem systematischen sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Der Film Skin ist eine wahre Geschichte über Hassgruppen, und What She Said: The Art Of Pauline Kael porträtiert Kael als eine der wenigen weiblichen Ikonen in der Welt der Filmkritik.
Egor Moskvitin - Russland: Die Kunst ist suggestiv: Sie kann Zuschauern ein Muster an Gedanken und Handlungen vorgeben. Deshalb sind Kritikerinnen und Kritiker so begeistert von Filmen, die die politische Position der Autorinnen und Autoren widerspiegeln. Es ist mir wichtig, dass die professionelle Community den Regisseurinnen und Regisseure auch Freiheiten lässt – darunter die Freiheit, sich an aktuellen Debatten zu beteiligen oder nicht und das Recht, in der Zukunft zu leben, nicht in der Gegenwart. Die politisch aufgeladenen Filme, die mich in diesem Jahr begeistert haben, sind Official Secrets und The Report (Sundance Film Festival) sowie Vice und Grâce à dieu (Berlinale).
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Camila Gonzatto - Brasilien: In der Auswahl für 2019 beschäftigen sich beispielsweise die meisten brasilianischen Filme direkt mit politischen Themen, wie etwa Marighella, Chão (i.e. Landless) oder Espero sua (re)volta (i.e. Your Turn). Andere sprechen sie indirekt an, indem sie wichtige soziale Themen oder Tabus und Vorurteile aufgreifen. Die Berlinale ist eine wichtige Plattform, um solche Filme zu zeigen, die in Brasilien wahrscheinlich Probleme hätten nach der kürzlichen Machtübernahme einer rechtsextremen Regierung.
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Joseph Walsh - Vereinigtes Königreich: Andrea Riseborough, die in Lone Scherfigs The Kindness Of Strangers mitspielt, trug bei der Festivaleröffnung einen Anstecker mit der Aufschrift #TimesUp am Revers. Eine kleine Geste, die jedoch eine wichtige politische Botschaft transportierte. Regisseure wie Schauspieler können ihre Popularität nutzen, um damit echte gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Am Ende sind es jedoch die Geschichten, die sie erzählen, die wirklich etwas bewirken. So haben wir in diesem Jahr Filme mit ernsten politischen Anliegen gesehen, etwa Grâce à dieu von François Ozon, der sich mit der Korruption der katholischen Kirche befasst. Agniesza Holland präsentierte ihre historische Filmbiografie Mr Jones über den walisischen Journalisten Gareth Jones, der für die Redefreiheit kämpfte und eine der schlimmsten Gräueltaten des 20. Jahrhunderts aufdeckte. Wir sollten uns mehr auf die Filme konzentrieren als um knackige Interview-O-Töne.
Alva Gehrmann - Norwegen: Nicht jeder Filmschaffende fühlt sich in der Lage, politische Werke zu schaffen – und das ist ok. Trotzdem sollten diejenigen, die eine kritische Geschichte erzählen wollen, ausreichend gefördert werden. Denn Filme wie Midnight Traveler geben einen anderen Einblick in die Situation von Flüchtlingen. Der afghanischen Regisseur Hassan Fazili dokumentiert seine mehrjährige Reise mit der Familie durch Europa. Fazili, seine Ehefrau, die auch Filmemacherin ist, und seine ältere Tochter drehten den Film nur mit ihren Smartphones.
Gerasimos Bekas - Griechenland: Ständig werden Filme politische Dimensionen angedichtet, die sie in meinen Augen einfach nicht haben. Politische Brisanz ist in erster Linie ein Verkaufsargument, ein Weg Filme zu vermarkten und ins Gespräch zu bringen. Wenn Filme politische Ereignisse beleuchten, kann das zwar eine Form von Statement sein. Die Tendenz geht aber eher dahin das Politische auszuschlachten, weil sie gute Stories liefern.
Noha Abdelrassoul - Ägypten: In den meisten Filmen, die ich gesehen habe, wurden politische Themen besprochen. Talking about trees hat das meiner Meinung nach in der besten Art und mit Witz geschafft. Auch An Unaired Interview.
Jutta Brendemühl - Kanada: Kosslick erklärte den Satz „Das Private ist öffentlich“ zum diesjährigen Festivalmotto. Ein Leitspruch, den sich offenbar auch viele Regisseure auf die Fahne geschrieben hatten. Die meisten der (westlichen) Filme, die ich gesehen habe, blieben jedoch in ihrer #firstworldproblems-Filterblase und wiesen wenig allgemeine Relevanz auf. Gully Boy dagegen ist ein mutiges (und sogar lustiges!) Beispiel für einen Film, der sich kritisch mit der kulturellen Gegenwart auseinandersetzt: Das Hindi-Drama von Autorin und Regisseurin Zoya Akhtar spielt innerhalb der aufkeimenden Hip-Hop-Szene in einem muslimischen Slum in Mumbai und benennt offen veraltete Meinungen zu den Themen Kaste, Religion und Geschlechteraufteilung. Seine Botschaft vermittelt der Film in einem energiegeladenen und euphorischen Soundtrack mit Textzeilen wie diesen: „Es ist 2018 und das Land ist in Gefahr. Ich bin ein Künstler, ich werde die Zukunft verändern. Das ist meine einzige Religion, keine Pseudo-Gebete.“
Andrea D'Addio - Italien: Ich denke nicht, dass Regisseure sich stärker politisch engagieren sollten. Jeder Film befasst sich mit Politik, auch wenn es nicht immer gleich erkennbar ist. Der Film Vice, der dieses Jahr bei der Berlinale lief, transportiert zum Beispiel eine wichtige politische Botschaft.
Man Jung Ma - Taiwan: Die Verbindung von Politik und Kunst erhält stets viel Aufmerksamkeit und steht oft im Zentrum vieler Diskussionen. Was die Auswahl oder die konkrete Umsetzung des Themas betrifft, sollte der politische Aspekt den künstlerischen jedoch nicht überlagern und damit möglicherweise den freien Raum zur künstlerischen Entfaltung einengen. Obwohl Zhang Yimous One Second und Derek Tsangs Better Days wegen „technischer Probleme“ aus dem Programm genommen wurden, wird dennoch klar, dass chinesische Filme der internationalen Zensur unterliegen und die Filmbranche immer noch konservativ und „sicher“ denkt. Auf der anderen Seite wurden in diesem Jahr Filme wie So Long, My Son, Grâce à Dieu und Mr. Jones gezeigt, die sich mit dem sozialen Wandel in China beschäftigen, den Kindesmissbrauch durch Priester offen anprangern oder die Pressefreiheit in der sowjetischen Ära der 1930er Jahre betrachten. Die Politik ist also als kreatives Element aus der Kunstbranche nicht mehr wegzudenken.