Die Vielfalt und Produktivität des Kinos der Weimarer Republik verblüfft noch heute. Etliche der in der Berlinale-Retrospektive gezeigten Filme aus den Jahren 1918 bis 1933 sind echte Entdeckungen und in ihren Aussagen bisweilen hochaktuell.
Von Philipp Bühler
Metropolis, Nosferatu, Menschen am Sonntag – das Kino der Weimarer Republik hat seinen festen Kanon. 90 Prozent des Filmerbes gelten ohnehin als verschollen, doch selbst Experten ist der verbleibende Rest, oft wegen schlechter Erhaltung oder Verfügbarkeit überlebender Kopien, keineswegs geläufig. Gleich 100 allzu bekannte Filme hat die diesjährige Retrospektive ausgeschlossen, um den Blick auf anderes zu lenken. Klingt nach Resteverwertung, birgt aber in Wahrheit viele Überraschungen.
Moderne Frauenbilder kurz vor dem Nationalsozialismus
Das Abenteuer einer schönen Frau (1932) wäre so ein Beispiel. Eine deutsche Screwball-Komödie noch vor den amerikanischen Klassikern – wer hätte das gedacht? Eine erfolgreiche Bildhauerin sucht einen Boxer als Model, wird ungewollt von ihm schwanger und verblüfft den glücklichen Vater mit der Entscheidung, das Kind allein großziehen zu wollen. Ein Jahr vor der nationalsozialistischen Machtübernahme war das der reinste Feminismus. Der Regisseur Hermann Kosterlitz musste emigrieren und wurde in Hollywood überaus erfolgreich. Unter dem Namen Henry Koster war er unter anderem der Lieblingsregisseur von James Stewart.
Sozialkritik und jüdisches Leben
Von Gerhard Lamprecht, bekannt als Regisseur der Kästner-Verfilmung
Emil und die Detektive (1931), stammt das Kinderdrama
Die Unehelichen (1926). Auch
Das Lied vom Leben (1931, Regie: Alexis Granowsky) und
Sprengbagger 1010 (1929, Regie: Karl-Ludwig Acház-Duisberg) werden als sozialkritische Milieufilme vorgestellt. Hier bleibt abzuwarten, was sie den bekannten „proletarischen Filmen“ wie
Kuhle Wampe (1932, Regie: Slatan Dudow) hinzufügen können. In jedem Fall ein Highlight ist der frühe Stummfilm
Das alte Gesetz (1923) vom Kinomagier E.A. Dupont. Streng genommen kein Teil der Retrospektive, sondern der frisch restaurierten „Berlinale Classics“, handelt der Film vom Sohn eines galizischen Rabbis, der gegen den Willen seines Vaters eine Schauspielkarriere beginnt. Er gehört zu einer ganzen Reihe von Filmen jener Zeit, die Verständnis für jüdische Belange wecken wollten und sich dafür mit den Themen Antisemitismus und Assimilation auseinandersetzten. Die wunderschöne Neufassung von
Das alte Gesetz wird im Anschluss auf einer Osteuropa-Tournee präsentiert, unter anderem vom Goethe-Institut in Vilnius.