Berlinale Blogger 2018
Wie wichtig sind Dokus auf der Berlinale?
Nimmt die Bedeutung von Dokumentarfilmen in Krisenzeiten zu, und wenn ja, wie macht sich das auf der Berlinale bemerkbar? Die Berlinale Blogger schildern ihre Eindrücke und äußern ihre Meinung.
Philipp Bühler – Deutschland: Der Dokumentarfilm war auf der Berlinale schon immer wichtig, in den letzten Jahren beschwört man ihn als Mittel gegen die Krise. Das wirkt manchmal so, als hätte der Spielfilm gegen den „realistischeren“ Dokumentarfilm keine Chance. Persönlich werde ich die aktive künstlerische Auseinandersetzung des Spiel- oder Essayfilms immer vorziehen. Die wirklich spannenden semi-fiktionalen Formate waren dieses Jahr leider Mangelware.
Camila Gonzatto – Brasilien: In Zeiten der Krise bietet der Dokumentarfilm einen anderen Blick auf wichtige Themen. Im Fall von Brasilien, das eine ernste Krise der Demokratie erlebt, ist das Impeachment gegen Präsidentin Dilma Rousseff Thema des lang erwarteten Dokumentarfilms The Trial. Andere Filme beschäftigen sich ebenfalls mit sozial relevanten Themen, wie etwa mit der Situation der Indigenen in Ex-Pajé, oder mit Vorurteile, Machismo und Homophobie in Bixa, travesty.
Ahmed Shawky – Ägypten: Wenn der Dokumentarfilm die Kunstform mit dem meisten Realitätsbezug ist, dann funktioniert er besser, wenn die Wirklichkeit mehr Geschichten zu bieten hat als die, die erzählt werden müssen. So haben Menschen auf der ganzen Welt nicht durch die Nachrichten vom Arabischen Frühling und seinen Folgen erfahren, sondern auch durch zahlreiche beeindruckende Dokumentationen. Das einzig Beunruhigende dabei ist, dass die Programmplaner in ihrem Bestreben, die Krise bei ihrer Filmauswahl zu berücksichtigen, Qualitätskriterien möglicherweise außer Acht lassen könnten.
Sarah Ward – Australien: Dokumentarfilmen wird immer noch eine besondere Rolle zugeschrieben: Sie sind ein Fenster zum Weltgeschehen, zeigen uns ein Stück echtes Leben zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmen Ort. In Zeiten der Krise sind solche Filme umso wichtiger. Das spiegelt sich in den Programmheften sämtlicher Filmfestivals, so auch in dem der Berlinale 2018. Hier werden über 80 Dokus gezeigt. Eldorado beschäftigt sich etwa mit der Flüchtlingskrise oder Game Girls porträtiert Menschen am Rande der Gesellschaft.
Yun-hua Chen – China: Dokumentarfilme werden in Zeiten der Krise zu einer immer wichtigeren Ausdrucksform, vor allem, weil sie es möglich machen, den herrschenden Zeitgeist auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen zu porträtieren. Der Film Matangi/MAYA/M.I.A geht etwa über eine bloße Musikdokumentation hinaus, indem er privates Archivmaterial geschickt mit Medienausschnitten kombiniert. Er gibt uns damit einen wichtigen Denkanstoß darüber, wie das Bild einer bekannten Persönlichkeit in den Medien transportiert wird und wie dieses Image die öffentliche Meinung prägt.
Andrea D’Addio – Italien: Mittlerweile benutzen wir das Wort „dokumentieren“ alltäglich. Jeder von uns hat ein Handy, mit dem er Videos drehen und sie hunderte von Freunden in sozialen Netzwerken zeigen kann. Aus diesem Grund hat sich der Dokumentarfilm in den vergangenen Jahren immer mehr an den Spielfilm angenähert. Die Erzählstrukturen sind komplexer geworden und auch die Genres sind immer breiter gefächert: Dokumentarfilme behandeln nicht mehr ausschließlich aktuelle Ereignisse, sondern werden auch als Komödien, Thriller und „falsche“ Dokumentarfilme angeboten.
Hikaru Suzuki – Japan: Ich möchte zwei Dokumentarfilme nennen, die mir dieses Jahr auf der Berlinale besonders in Erinnerung geblieben sind. Waldheims Walzer ist ein Essayfilm mit Ausschnitten aus Fernsehaufnahmen über die Wahl des österreichischen Bundespräsidenten im Juni 1986. Central Airport THF ist ein Dokumentarfilm über das Leben der Flüchtlinge, die ab Herbst 2015 vorübergehend im ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin untergebracht waren. All diese Filme zeigen die harte Realität und fesseln den Zuschauer.
Gerasimos Bekas – Griechenland: Dokumentarische Stoffe mit einem Schuss Fiktion sind auffällig präsent auf der diesjährigen Berlinale. Das tut der Berlinale gut, denn sie ergeben oft die besseren Geschichten. Die hier gezeigten Fiktionen kranken häufig an einem einfallslosen Ende. Der dokumentarische Rahmen gibt eine Struktur vor, die der Handlung oft zu Gute kommt.
Jutta Brendemühl – Kanada: In Kanada wird oft damit argumentiert, dass die Dokumentation die nationale Kunstform sei. Und da ist etwas dran: Die Doku Unarmed Verses („Unbewaffnete Lyrik”) von Charles Officer zum Thema Rassenproblematik und Zwangsumsiedlung ist gerade zum Sieger beim kanadischen Top Ten Film Festival erklärt worden; 7 von 17 kanadischen Filmen bei der Berlinale sind Dokumentarfilme. Der Künstler Chris Kennedy aus Toronto präsentiert im Forum Watching The Detectives („Den Detektiven zuschauen“), einen leisen, experimentellen Film, der unter dem Label „Dokumentarfilmform” läuft. Diese Einteilung findet Kennedy allerdings etwas unglücklich: „Mir widerstrebt die Vorstellung vom Dokumentarfilm als Genre. Eine Dokumentation wird schließlich genauso hergestellt wie ein Spielfilm und biegt die Realität so hin, dass sie dem erwünschten moralischen Statement des Regisseurs entspricht. Mein neuer Film bedient sich zwar auch Dokumenten (nämlich Reddit Posts und 4chan Zeichnungen), aber ich stelle diese hier zusammen, um untersuchen zu können, wie wir uns durch unsere subjektive Sichtweise unsere eigene Realität basteln.”
Grace Barber-Plentie – Großbritannien: Ja, auf jeden Fall! Ich habe hier schon so viele Dokus gesehen, aus denen ich viel gelernt habe und die mir in Bezug auf viele wichtige Themen wie Rassismus, Geschlechterdiskussion und Sexualität einen neuen Standpunkt eröffnet haben.