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Die coolen Kids der Bürgersteige
Polaroid, nachmittags auf der Patission

Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen.
Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen. | Foto (Ausschnitt): © Vangelis Patsialos

Die Patission-Straße in Athen ist voller Leben und Geschichten. Geschichten von erfüllten und unerfüllten Träumen der Menschen, die hier zu Hause sind. Kostis Papaioannou spürt ihnen nach und hält sie fest wie ein Polaroid des Augenblicks.

Von Kostis Papaioannou

Nachmittags füllt sich die Straße mit jungen Leuten. Mädchen und Jungen, kleine und große, Teenager, die noch zur Schule gehen oder sie bereits hinter sich haben, junge Menschen, die studieren oder auch nicht studieren, die abhängen, arbeiten oder einen Job suchen.

Die Stunden verstreichen, die Geschäfte schließen, Menschen mit Maske, müde Menschen mit Maske warten an den Haltestellen auf Trolleys und Busse. Unter ihnen auch die Kids der Patission-Straße. Mädchen steigen in Busse und lassen ihren Duft an der Haltestelle zurück. Jungs rauchen und starren ihnen an einen Pfahl gelehnt nach. Paare vom Balkan und aus Ländern der Subsahara flanieren im Park, drei Polen trinken Bier im Park an der Kyprou-Straße, lässig, Patission-Bier. Die Sonne versinkt in den Fensterfronten über ihnen.

Ein Mädchen in einer graue Jogginghose und Turnschuhen tippt vieldeutig lächelnd eine Nachricht und wartet, bis ihr Hund an den Baum gepinkelt hat. Vor dem pakistanischen Friseurladen hockt eine Gruppe auf Kisten. Essensboten fahren ihre Lieferungen aus. Leute mittleren Alters gehen mit Plastiktüten voller Brot, Obst, Milch oder mit Fleischspießen vom Imbiss, Döner Kebab oder Souflaki nach Hause.

„Pass auf dich auf, welchen Weg du auch immer gehst“

Mehrere Jungen überqueren die Straße, lachen laut, schreien „Arschloch“ und rempeln sich absichtlich gegenseitig an. Ein Mädchen, Teilzeitkraft im Supermarkt Vassilopoulos, läuft beschwingt die Fokionos-Straße entlang. Von der anderen Straßenseite kommen noch andere Jungs und lassen ihren Basketball auf dem Asphalt aufprallen. Und einer von ihnen wirft den beiden Mädchen eine Bemerkung zu, die in der Lelas-Karagianni-Straße auf einem Treppchen sitzen und einen Job suchen. Sie sind erschöpft. „Universitäts-Hochschul-Fachhochschulabsolvent*innen mit Berufserfahrung im Vertrieb, Teamgeist, strukturierte Arbeitsweise, zielstrebig, mit hervorragenden Kommunikations- und Organisationsfähigkeiten, ausgezeichneten Computerkenntnissen, sehr guten Englischkenntnissen.“
 
Große Kinder, kleine Erwachsene: Sie arbeiten in Büros, Geschäften, Lagerhallen, Callcentern, Sekretariaten von Nachhilfeschulen und billigen Bekleidungsgeschäften. Bei Marks and Spencer und bei Zara, bei Mobilfunkanbietern und bei Kurierdiensten. Sie wechseln von einer Anstellung mit geringer Bezahlung und schönen Namen zur nächsten: Customer Assistants, Call Center Agents, Sales Representatives und Kundenbe­treuer*in­nen. Von Job zu Job, ein wenig Arbeitslosigkeit, viel Arbeitslosigkeit, Teilzeitarbeit, flexible Beschäftigung, ein paar Stunden, ein paar Tage, gar keine Tage.
  • Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen. Foto (Ausschnitt): © Vangelis Patsialos
    Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen.
  • Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen. Foto (Ausschnitt): © Vangelis Patsialos
    Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen.
  • Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen. Foto (Ausschnitt): © Vangelis Patsialos
    Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen.
  • Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen. Foto (Ausschnitt): © Vangelis Patsialos
    Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen.
  • Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen. Foto (Ausschnitt): © Vangelis Patsialos
    Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen.
  • Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen. Foto (Ausschnitt): © Vangelis Patsialos
    Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen.
  • Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen. Foto (Ausschnitt): © Vangelis Patsialos
    Stadtspaziergang - Patission-Straße in Athen.
In der Passage rauchen zwei Mädchen im Eingang des Copyshops. Die eine streckt ihre Hand aus, um der Freundin ihre lackierten Nägel zu zeigen. Zwei Knirpse verschwinden in der Querstraße auf Skateboards Richtung Acharnon-Straße und aus dem Zwischengeschoss dringt der Geruch eines Joints. Ein wenig weiter stehen drei kleine afrikanische Mädchen mit dem Rücken zur Wand. Die Große mit den Dreadlocks singt einen Schlager: „Pass auf dich auf,  welchen Weg du auch immer gehst, vergiss nicht, mir was zu schicken, wenn du ankommst.“ Die beiden anderen tänzeln neben ihr.

Hinter der Agiou-Meletiou-Straße, wo sich die Patission verengt, laufen drei weitere Mädchen, bleiben stehen und gehen wieder weiter. Sie reden über Jungs. Das sieht man sofort. Sie haben sich schick gemacht, als wären sie seit März nicht mehr ausgegangen. Das ist jetzt anders. Ausgehen bedeutet noch mehr (r)ausgehen.

„Die neuen Athener Kids“

Sie verabreden sich in Parks, Cafés und auf Plätzen. Sie studieren an der Philosophischen Fakultät oder an der Panteion-Universität, machen eine Ausbildung zur Kosmetikerin oder Köchin, sie wollen Grafikdesignerin, Programmiererin und Barista werden. Sie wollen ihr Englisch- und ihr Computerzertifikat machen, für den Fall, dass es eine offene Stelle gibt. Ein Mädchen hat in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, aber sie konnte es nicht mehr ertragen, den Anwalt ständig hinter sich zu haben. Sie alle können solche Geschichten erzählen. Und jetzt stehen sie da mit Kaffee von Everest und Coffeeway.

Die eine macht Musik, lebt mit ihrem Freund zusammen, will sich eigentlich trennen, schiebt das aber wegen des Geldes auf. Die andere wohnt immer noch bei Mama und Papa in einem Penthouse an der Ecke Pipinou. Die dritte bei ihrer Oma am unteren Ende der Aristoteles-Straße. Ein paar Jungs hängen am Kiosk auf dem Koliatsou-Platz herum, wo ihr bester Freund arbeitet. Er ist der Einzige aus der Clique, der schon einmal eine eigene Wohnung hatte, nun wohnt er wieder bei seinen Eltern.

Auf dem Drakopoulos-Grundstück sprechen Kinder eine, zwei und fünf Sprachen, jedes seine eigene, aber untereinander verständigen sie sich nur auf Griechisch. Die neuen Athener Kids: Sie lachen und schwitzen und fluchen und kicken den Ball. Und auf der Bank schweigend zwei Mädchen, die eine surft auf dem Handy, die andere beobachtet abwesend den Verkehr. Sie trägt einen weißen Kittel, die Schicht im Pammakaristo-Krankenhaus ist gerade zu Ende.
 
Ihre Freundin ist traurig, sie hat wieder mal gelesen: „Zuverlässiger Mitarbeiter in Thessaloniki sucht junge Griechin, landesweiter Einsatz. Das junge Mädchen sollte ein dem Partner angemessenes Auftreten haben und sich den Kunden des Unternehmens als elegante und nicht extreme Erscheinung präsentieren.“ Wenn sie das liest, verfinstert sich ihr Gesicht. Und dann beugt sich das traurige Mädchen vor und sagt ihrer Freundin etwas ins Ohr. Und beide brechen in Gelächter aus, umarmen sich und verharren so umarmt.

Die Kids der Patission-Straße hat die Quarantäne nur noch besser gemacht. Ich laufe unsichtbar mit, stelle mir ihre Geschichten vor, wie ein Polaroid des Augenblicks.


Dieser Text ist im Original auf Griechisch am 20.05.2020 online im Lifo Magazin veröffentlicht worden.

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