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29.04.2019 | Jonas Lüscher & Michael Zichy
Eine erste Überlegung ...

Jonas Lüscher Foto: Ekko von Schwichow Michael Zichy Foto: Herbert Rohrer, Wildbild

Liebe Freund*innen,

Hier also nun ein paar erste Überlegungen, die unsere Diskussion zum Thema Populismus in Fahrt bringen sollen. Zuallererst eine notwendige Präzisierung: Anstelle von Populismus wäre es vermutlich richtiger, den Plural zu verwenden und von Populismen zu sprechen. Ganz offensichtlich tritt der Populismus in verschiedenen Ausformungen auf. In der Fachdiskussion wird in erster Linie zwischen rechtem und linkem Populismus unterschieden. Aber auch diese Unterscheidung ist natürlich nicht feinkörnig genug. Wir wollen in diesem Projekt den Unterschieden, aber auch den Gemeinsamkeiten zwischen den vielen Erscheinungsformen des Populismus unter den Vorzeichen unterschiedlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und religiöser Bedingungen nachspüren. Dazu haben wir eine ausgesprochen diverse Gruppe zusammenstellen können.

Ágnes Heller, die einen großen Teil ihres Lebens in den USA verbracht hat und nun wieder in Ungarn lebt, das Land, welches sie vor 42 Jahren zu verlassen gezwungen war, kennt sowohl die Eigenarten der US-amerikanischen Politik, die zur Wahl Donald Trumps geführt haben, wie auch die Zustände in Ungarn, in denen Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei seit vielen Jahren die Politik bestimmen. Zudem haben wir in Ágnes Heller eine Gesprächspartnerin, die als Kind den Schrecken des Faschismus erlebt oder vielmehr überlebt hat, und die in den 70er Jahren, nach vielen Jahren der politischen Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime und der Unterdrückung durch dasselbe, ihre Heimat verlassen musste. Sie ist eine Gesprächspartnerin, die also nicht nur die Populismen der Gegenwart auf beiden Seiten des Atlantiks bestens kennt, sondern auch die beiden folgenschwersten politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, die sich – aber dazu wird sich Ágnes Heller selber äußern – populistischer Mechanismen bedient haben.

Mit Maria Stepanova haben wir eine profunde Kennerin der russischen Verhältnisse in unserer Gruppe, die nicht nur seit vielen Jahren die Politik Putins als Journalistin und Publizistin kritisch begleitet, sondern in ihrem jüngst erschienen Roman Nach dem Gedächtnis die Tiefen der sowjetischen Erinnerungsräume auslotet.

Yvonne Owuor hat in ihrem Debütroman Dust nicht nur die Politik der kenianischen Gegenwart beschrieben, sondern auch die koloniale und postkoloniale Geschichte ihres Landes ausgeleuchtet. Gegenwärtig beobachtet sie ihre Heimat aus der Ferne. Am Wissenschaftskolleg in Berlin arbeitet sie an ihrem neuen Roman und hat dabei die Gelegenheit, populistische Strömungen in Deutschland mit den Verhältnissen in Kenia in Bezug zu setzen.

Carol Pires wird uns aus Brasilien berichten können, wo sich in den nächsten Monaten zeigen wird, wie schnell und tiefgehend der autoritäre und populistische neue Präsident Jair Bolsonaro das Land verändern wird.

Youssef Rakha hat in Kairo den Volksaufstand 2011, die darauf folgende Regierungszeit der Musilmbrüder, die zweite Revolution – oder, je nach Sichtweise, den Putsch – und die sich nun verfestigende Militärregierung mit der ihm eigenen intellektuellen Distanz beobachtet. Er hat im Vorgespräch bereits angedeutet, dass er beabsichtigt, den Zusammenhang zwischen Populismus und Islamismus auszuloten.

Michael Zichy kennt, auch als aktiver Politiker bei den österreichischen Grünen, die Verhältnisse in seinem Land bestens und beobachtet mit Sorge die Veränderungen in der Gesellschaft, die sich im nun zweiten Jahr der rechtsbürgerlichen Koalition vollziehen.

Jonas Lüscher wurde in seiner Jugend in der Schweiz durch das Erstarken des spezifisch helvetischen Rechtspopulismus der Schweizerischen Volkspartei, die nunmehr seit zwanzig Jahren die stärkste Partei im Land darstellt, politisiert. Heute beobachtet er mit Sorge den Einzug der rechts-konservativen bis offen rechtsextremen Alternative für Deutschland in den Bundestag seiner Wahlheimat. Eine solch vielfältige Gruppe ist eine ideale Voraussetzung, um dem Phänomen des Populismus auf die Spur zu kommen.

Eliten graphicrecording.cool Wir wollen die Diskussion mit einer These anstoßen: Es scheint uns, als ob es ein Narrativ gibt, dessen sich alle Populisten bedienen. Der Staat, so lautet es, befinde sich in der Hand einer abgehobenen, globalistisch denkenden, meist urbanen Elite, die den Kontakt zu den „normalen“ Bürger*innen längst verloren habe und die alltäglichen Sorgen des „Volkes“ gar nicht mehr nachvollziehen könne. Sie aber, die Populisten, gehörten nicht zu dieser Elite und sie würden daher als einzige die Ängste der Bürger*innen verstehen, offen artikulieren und ernst nehmen. Dort, wo die Populisten bereits in der Regierung sitzen – wie beispielsweise in Ungarn oder den USA – wird das Narrativ leicht abgewandelt: Nun sei es die Opposition, mehr noch aber die übernationalen Institutionen – die EU, die UNO –, gegen die es die „wahren Interessen“ des Volkes zu verteidigen gelte.

Diese Erzählungen sind aus mehreren Gründen interessant. Erstens: Viele führende Populisten kommen selbst nicht im Geringsten aus dem „gewöhnlichen“ Volk. Christoph Blocher etwa, das Gesicht des Schweizerischen Rechtspopulismus, gibt sich als Volkstribun und fast bäuerlich anmutende Figur aus, die ganz nah am Volk ist – dabei ist er ein Chemieunternehmer mit einem Vermögen um die 10 Milliarden Euro. Donald Trump und Silvio Berlusconi sind ähnliche Beispiele. Weshalb wird diesen Männern trotzdem die Behauptung abgenommen, sie seien volksnah, wüssten um die Sorgen der einfachen Leute und nähmen sich dieser auch wirklich an?

Zweitens: Populisten rühmen sich dafür, das auszusprechen, was die „schweigende Mehrheit“ denkt, und sie nehmen für sich in Anspruch, die wahren Interessen des Volkes zu vertreten. Aber tun sie dies wirklich? Oder gelingt es ihnen nur, das Volk auf perfide Art zu manipulieren? Werden die Meinungen und Interessen einer Mehrheit tatsächlich durch eine Elite – und ihrem Diktat der politischen Korrektheit – unterdrückt? Wenn dem nicht so wäre: Wie kommt es dazu, dass dieses Narrativ trotzdem so verfängt? 

Und drittens schließlich: Stimmt die These der Existenz einer abgehobenen politischen Elite, einer „classe politique“, überhaupt? Für welche Länder hat sie Gültigkeit, für welche nicht? Sind wir, die Diskursteilnehmer, Teil dieser Elite und damit Teil des Problems? Oder ist es nicht vielmehr so, dass es angesichts der Komplexität der Welt und der politischen Entscheidungen schlicht eine Elite braucht? Übt diese Elite tatsächlich moralischen Terror aus und spricht Denkverbote aus, oder ist die Diskrepanz zwischen politischer Elite und gewöhnlichem Volk die unvermeidbare Folge des Umstandes, dass sich politische Zusammenhänge in einer globalisierten Welt nur noch schwer vermitteln lassen?

Wer nimmt den Ball auf und antwortet mit einem ersten Essay auf unsere Fragen und berichtet über die spezifischen Verhältnisse in seinem Land?

Herzlich,
Michael und Jonas


 

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