Youssef Rakha zum Tod von Ágnes Heller
Ágnes Heller – sie wird eine Quelle der Inspiration bleiben
Obwohl er vor dem Start des transnationalen Dialogs zum Populismus, Zeitgeister, im Mai 2019 noch nie von Ágnes Heller gehört hatte, spürte der ägyptische Schriftsteller und Dichter Youssef Rakha schon bald eine tiefe Verbundenheit mit der ungarischen Philosophin, die ihn mit ihren scharfsinnigen und nachdenklich stimmenden Essays beeindruckte. Zum Tod von Àgnes Heller findet er sehr persönliche Worte.
Von Youssef Rakha
Es ist beschämend, dass mir Ágnes Heller kein Begriff war, bevor mich Jonas Lüscher auf sie aufmerksam machte, als er mich vor ungefähr einem Jahr zur Teilnahme an diesen Gesprächen einlud. Durch meinen marxistischem Gedankengut keineswegs abgeneigten Vater kannte ich jedoch György Lukács, der uns beide nachhaltig geprägt hat (auch wenn es mir noch immer nicht gelingt, seinen Namen richtig auszusprechen!). Aus diesem Grund erfüllte es mich 19 Jahre nach dem Tod meines Vaters auf eine eigentümlich schmerzvolle Weise mit Stolz, mich mit dieser Meisterschülerin von Lukács in einem Team wiederzufinden. Mehr als einmal beschlich mich der Gedanke, dass ein Treffen mit Ágnes – ein Privileg, das mir bis zuletzt leider nicht vergönnt war – einer persönlichen Bekanntschaft mit dem 20. Jahrhundert gleichkäme. Einem 20. Jahrhundert, das sich überdies in seinem besten europäischen Gewand präsentierte.
Später dann, bevor ich ihre prägnanten, treffsicheren und (wie es Jonas und Michael in ihrem Nachruf beschreiben) auf bewundernswerte Weise jugendlich anmutenden Beiträge zu unserem Gespräch las, fand ich folgendes Zitat auf Wikipedia, in dem sie sich zu der Tatsache äußerte, dass ihr Leben zunächst durch die Nazis und anschließend durch totalitäre kommunistische Regime überschattet worden war: „Ich musste also herausfinden, was Moral bedeutet, was das Wesen von Gut und Böse ist, was ich gegen Verbrechen ausrichten kann, wie ich die Ursachen für moralisches Verhalten und für das Böse ergründen kann. Das war meine erste Frage. Meine zweite Frage betraf den sozialen Aspekt: Was ist das für eine Welt, die Derartiges hervorbringt? Was ist das für eine Welt, in der derartige Dinge möglich sind? Was ist der Kern der Moderne? Können wir auf Erlösung hoffen?“ Voller Demut vor ihrem beispiellosen Leben und einflussreichen Werk empfand ich sofort eine tiefe seelische Verbundenheit mit dieser Frau, mit der ich scheinbar nur wenig gemein hatte, denn ich glaube, meine Arbeit wird genauso von den letzten beiden wie von anderen Fragen bestimmt. „Was ist der Kern der Moderne? Können wir auf Erlösung hoffen?”
Mein Gefühl der Seelenverwandtschaft und der Dankbarkeit verstärkte sich zusätzlich durch die Lektüre ihrer kurzen Essays, die zwar auf den ersten Blick einfach und direkt sind, gleichzeitig aber die Fragestellungen der politischen Philosophie, die im Mittelpunkt unserer Gespräche stehen, auf eine Weise zu erfassen vermögen, die ich so noch nie erlebt habe. Es war eine Wohltat zu sehen, dass meine angespanntes Verhältnis zur Demokratie, das sich so sehr von der vorherrschenden akademischen Meinung unterschied, von einer derart versierten Kennerin der politischen Theorie geteilt wurde. Und ohne ihre beiden Anmerkungen – dass Populisten (oder Ethnonationalisten, wie sie sie nannte) demokratisch gewählt worden seien und dass es für das Bestehen einer Demokratie nach unserem Verständnis einer „kulturellen Elite“ mit „geistigen Leistungen“ bedürfe – hätte ich niemals mein Essay über Ägypten schreiben oder meine Bedenken in Worte fassen können.
Es ist ohne Zweifel traurig, dass Ágnes Heller von uns gegangen ist. Doch diese Trauer wird durch die Gewissheit gelindert, dass sich jede*r von uns danach sehnen würde, ein solch interessantes und erfülltes Leben zu führen, wie sie es getan hat, und dass ihre Worte auch künftig nicht nur der großen, globalen Ideenrepublik, sondern auch – und zwar auf eine ganz besondere und unmittelbare Weise, die mich beinahe mit Genugtuung erfüllt – dieser kleinen Gruppe von Freund*innen, die sich noch nie getroffen haben, als Quelle der Inspiration dienen werden.
Youssef Rakha