Gert Loschütz
Das Nichtsein ist die Regel

Gert Loschütz' neuer Roman erzählt vom schwersten Zugunglück, das es in Deutschland jemals gab. Es ereignete sich 1939 in Genthin. Von dieser Tragödie ausgehend, erforscht Loschütz verschiedene Dimensionen menschlichen Unglücks.

Von Holger Moos

Loschütz: Besichtigung eines Unglücks © © Schöffling & Co. Loschütz: Besichtigung eines Unglücks © Schöffling & Co.
Genthin ist der Geburtsort des Schriftstellers Gert Loschütz. Er liegt zwischen Berlin und Magdeburg. In der Nacht vom 22. Dezember 1939 raste im Genthiner Bahnhof ein D-Zug in einen anderen, völlig überfüllten Schnellzug hinein. Es starben fast 200 Menschen. Die Geschichte dieses Unfalls erzählt Loschütz im ersten Kapitel seines Romans Besichtigung eines Unglücks minutiös und fast krimiartig nach.
 
Es gibt mehrere Theorien, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Hatte der Lokführer des auffahrenden Zuges ein Haltesignal übersehen? Oder war er eventuell wegen einer Inversionswetterlage und den dadurch hervorgerufenen Rauchgasen in seiner eigenen Lokomotive nicht bei Bewusstsein? Sowohl ein Schrankenwärter als auch ein Streckenposten im Stellwerk hatten vergeblich versucht, die Katastrophe zu verhindern.

Düstere Gedanken

Schon zu Beginn ahnt man, dass es ein zeitlich weiter Bogen wird, den Loschütz spannt. Denn nacherzählt wird dieses Ereignis von dem Journalisten Thomas Vandersee, der Verbindungen zu seiner eigenen Geschichte herstellt. In der Gegenwart hat der vaterlos aufgewachsene Erzähler eine zwar geheime, aber nach eingespielten Routinen ablaufende Affäre mit einer verheirateten Frau.
 
Der Roman besteht aus drei längeren Kapiteln, denen zwei kurze, zum Teil fragmentarische Kapitel folgen. Nachdem Loschütz im ersten Kapitel dem Unglück mithilfe von Gerichtsakten, Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten detektivisch nachspürt, erzählt er im zweiten Kapitel die Geschichte der Halbjüdin Carla. Diese ist mit dem Juden Richard verlobt, der angesichts der politischen Lage in Deutschland, spätestens seit der Pogromnacht im November 1938, zunehmend in düsteren Gedanken versinkt. Carla lernt einen etwas älteren italienischen Geschäftsmann namens Giuseppe Buonomo kennen, der sie als seine Frau ausgeben will, um ihr ein Entkommen aus Nazideutschland zu ermöglichen. Beide sitzen im Unglückszug, während der ohnehin bereits verzweifelte Richard auch noch zwiespältige Gefühle aushalten muss. Denn er ist zwischen Eifersucht und dem Wunsch, seine Verlobte gerettet zu wissen, hin und her gerissen.
 
Im dritten Kapitel wird die Familiengeschichte des Erzählers mit der bisherigen Handlung verwoben. Vandersees Mutter Lisa macht nämlich zur Zeit des Zugunglücks eine Ausbildung in einem Bekleidungsgeschäft und beliefert Carla, die das Unglück schwer verletzt überlebt, mit Kleidung. Es bleibt offen, ob Lisa sogar als Botin zwischen Carla und Richard fungierte. Und natürlich gibt es auch in Lisas späterem Leben eine unglückliche Liebe, eine verpasste Chance, der sie ihr Leben lang nachtrauert. Ein anderer trauriger Nebenstrang ist die vermeintliche Vaterlosigkeit des Erzählers. Denn offenbar ist Vandersees Vater gar nicht im Krieg gefallen, sondern er lebt und ist eine Randfigur aus seinem familiären Umfeld. Doch eine Aussprache dieses heiklen Themas meiden Mutter wie Sohn.

Große Erzählkunst

Besichtigung eines Unglücks ist große Erzählkunst. Der Roman besticht durch seine Multiperspektivität, die gekonnt miteinander verknüpften Erzählstränge und Zeitebenen sowie die sich am Ende daraus ergebenden philosophischen Gedanken. Im vierten Kapitel, das „Notizhefte“ heißt, wird zum Beispiel über das Verhältnis von Zeit, Leben und Tod reflektiert: „Dazu die Erkenntnis, dass vor meiner Geburt Millionen von Jahren vergangen sind und nach meinem Tod wieder Millionen von Jahren vergehen werden, so dass die Annahme, das Leben sei der Normalfall, als blanker Unsinn dasteht. Umgekehrt ist es: Nicht das Da-, sondern das Nichtsein ist die Regel.“
 
Besichtigt wird in Loschütz Roman nicht nur ein besonders tragisches Zugunglück, sondern das Unglück schlechthin, das sich die Menschen allzu oft gegenseitig bereiten, manchmal aus reiner Bösartigkeit, manchmal aus purer Verzweiflung.
 
Rosinenpicker © © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank
Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Roman
Frankfurt: Schöffling & Co., 2021. 336 S.
ISBN: 978-3-89561-157-5
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Top