Lob der Heimatlosigkeit
Heimat! Lese ich die Klassiker der ungarischen Dichtung, komme ich zum Schluss, dass es keine edlere Idee geben kann als die der Heimat; im täglichen Leben wiederum gibt es kaum einen anderen Begriff, dessen Bedeutung ärger missbraucht wurde, und bis heute missbraucht wird. Das wurde mir erst wirklich klar, als das Heimatdefizit für mich zur täglichen Erfahrung wurde.
Ich lebte in einer Heimat, die Jugoslawien hieß, und ich lebe in einer Sprache, die in Ungarn beheimatet ist. Ich will mich damit keineswegs beklagen, denn es hat sich daraus ein fruchtbares postmodernes Chaos ergeben. Das begann mit der Erfahrung, dass bei mir Heimat und Geburtsland nie zusammenfielen. Ich bin am Dorfrand von Szenttamás/Srbobran groß geworden, in der Zöld utca („Grünen Straße”), die damals von Ungarn und Serben gemischt bewohnt war. Die Bewohner setzten sich abends auf die Bank vor ihrem Haus oder auf den Schemel, den sie mitbrachten, und unterhielten sich. Ich lungerte meist in der Nähe herum. Für mich als Kind war es wunderbar, ihren Gesprächen zu lauschen. Sie erzählten über die große Welt und über abenteuerliche Soldatenerinnerungen, und sie brachten auch die Welt der größeren Städte in der Umgebung, zum Beispiel Novi Sad, ins Gespräch, wo sie, wenn sie was dort zu tun hatten, in Festkleidung hinfuhren. Meist jedoch tauschten sie sich über die große Welt aus, nie über die Heimat! Ich erinnere mich auch nicht daran, zu Hause je das Wort gehört zu haben. Interessanterweise wurde ich während meiner ganzen Erziehung nie zur Treue zur Heimat, zur Heimatliebe dressiert. Der Begriff gehörte eher in den Rahmen des offiziellen Diskurses. Die Sprache der Heimat war die Sprache der Ämter. Mit der Zeit wurde mir bewusst, dass man in den ärmeren Schichten der Gesellschaft kaum oder nie über die Heimat sprach, und wenn doch, dann höchstens im Sinne von Lokalpatriotismus. Und dieser bezog sich meist auf die Wojwodina. Das Thema war damit erledigt. Meine Vorstellungen über den Begriff Heimat unterschieden sich von denen, die sich die Schriftstellerkollegen in den Plattenbauwohnungen von Novi Sad oder in den Villen am Budapester Rosenhügel bildeten. Unter den einfachen Menschen, die von der großen Welt träumten und an ihrer engeren Heimat festhielten, fühlte ich mich stets als plebejischer Kosmopolit und nicht als Patriot.
Durch mein Interesse fürs Gemeinwesen habe ich dann später gelernt, dass die Mitglieder des Establishments und der Nomenklatur sowie die Positionsjongleure unter den Intellektuellen schon sehr gerne das Wort Heimat verwendeten. Die Mehrheit, das heißt, die unteren Volksschichten, waren hingegen weder Patrioten noch Nationalisten. Der soziale Charakter des Unterschiedes zwischen den beiden Diskursen war leicht zu erkennen. Die Herrschenden sind zu Plebejern und Patrioten, die Armen wiederum zu „urbanen” Menschen geworden, die von der weiten Welt träumten und städtisch werden wollten. Die Schriftsteller und Intellektuellen waren in ihrer Einstellung zu dieser Frage geteilt. Die offiziellen Dichter hatten eine Heimat, die Andersdenkenden nicht. Bei letzteren fehlte einfach das Wort Heimat im Wortschatz.
In der Minderheit herrschte dieselbe Gespaltenheit. Die repräsentativen Minderheitsautoren haben im ehemaligen Jugoslawien ihre Heimat gefunden. Das Symbol für diese Heimat war allem voran Marschall Tito – man braucht sich nur die ihm gewidmeten Werke der Minderheitsdichter anzuschauen. In Wirklichkeit war das die Eintrittskarte in die Funktionärs- und lntellektuellenelite. Dieser Groß-Patriotismus war das Festgewand des Konformismus. Mein erster Roman Denkschriften eines Makros setzte sich bereits dieser Mentalität entgegen, und die späteren noch viel mehr. Heimat ist zu etwas völlig anderem geworden als das, was meine Lektüren der klassischen Lyrik und Prosa suggerierten, nämlich zum Geschäft.
Die neue Klasse, die sich nach dem Sturz des Sozialismus herausbildete, berief sich noch viel lieber und auch viel aggressiver auf die Heimat und den Patriotismus. Es kam zu wichtigen Verschiebungen im Wortgebrauch. Die Nationalisten enteigneten den Begriff der Heimat für sich, und mit dem Panzer des Nationalismus ausgerüstet, versuchten sie die breiten Volksschichten zu „erobern”. Was dem Sozialismus mit seinem Einparteiensystem nicht gelungen war, konnte der Kapitalismus mit seinem Mehrparteiensystem erfolgreich verwirklichen; die Mehrheit der Heimat- und Mittellosen hat „ihre” Heimat gefunden. Die einstige Staatspartei hatte die Arbeiter verführt, die neuen Parteien belogen sie. Die Patrioten vereinten in ihrer verblüffenden Gier nach Wählerstimmen mit der wirksamsten Parole, dem Nationalismus, die Mehrheit der Wähler hinter sich. Sie kompromittierten die Heimat mit dem Nationalismus! Es kam nicht nur einmal vor, dass aus den einstigen kommunistischen Hardlinern frisch gebackene Nationalpatrioten wurden. Wie der hervorragende kroatische Autor Miljenko Jergović feststellt, ist Czeslaw Milosz’ Buch Verführtes Denken ein Manifest des Antikommunismus; nur dass sich die Antikommunisten nach dem Fall der Berliner Mauer nicht mehr gerne auf seinen Antikommunismus berufen, da das Werk viel mehr ist als nur das: eine Kritik jedweder Orthodoxie, in der die Kommunisten nur noch von den Antikommunisten übertroffen werden. Nationalismus und Patriotismus sind zu einer neuen, in den breiten Volksmassen tiefe Wurzeln schlagenden Orthodoxie geworden. Jener „Stadtrand-Nationalismus”, der in den späten 1990er Jahren in Serbien entstand, verjagte aus dem öffentlichen Leben den traditionellen, in seinen Keimen erstickten bürgerlichen Nationalismus, und er startete zugleich einen radikalen Angriff auf den Kosmopolitismus und die Intellektuellen, die plötzlich mit den dramatischen Problemen der Heimat- und Wurzellosigkeit konfrontiert waren. Heimatlos werden bedeutete nun Einssein mit dem Widerstand gegen das Regime. Der Kampf, der in Serbien in den 1990er Jahren gegen Kosmopolitismus, Liberalismus, Heimatlosigkeit und Mondialismus geführt wurde, erinnerte an die stalinistischen Zeiten, nur dass die Offensive diesmal nicht im Namen des Proletariats, sondern der Nation und der Heimat geführt wurde. Die Initiative ging von oben aus, und die Elite hat sich schnell mit der Masse geeinigt. Parlamentswahlen können offensichtlich nur noch mit strengem Nationalismus und Patriotismus gewonnen werden. Die Heimat ist wieder zur Ware, zur politischen Demagogie geworden. Milošević hatte in den ersten Stunden der Wende eine politische Philosophie patentiert, die später in zahlreichen autokratischen Führerfiguren des postsozialistischen Ostmitteleuropas ihre Fortsetzung fand.
Die Wende hat auch bei der Minderheit ein neues Verständnis von Patriotismus und Heimat gebracht. Soziale Faktoren spielten weiterhin eine starke spaltende Rolle. Für die wohlhabende Schicht der Ungarn blieb Serbien der Wohnsitz, die „formale Heimat”, die Funktion der authentischen, aber virtuellen Heimat hingegen hat die Nation, also Ungarn, übernommen. Die mit inneren Konflikten verbundene Trennung dieser beiden führte bei der politischen Elite der Minderheiten manchmal zu komischen Widersprüchen. Nachdem die Minderheitspolitiker der Wojwodina, wenngleich auf verschiedenen Ebenen, aber kontinuierlich Regierungsfunktionen übernahmen, prahlten sie mit einer Heimatliebe von geringer Intensität, während sie ein Nationalgefühl von hoher Intensität propagierten. Der Heimatbegriff löste sich von den Problemen und Widersprüchen des Alltags. Während Nationalismus und Patriotismus bei der mehrheitlichen Nation nach der Wende eins wurden, trennten sich die beiden Ideen bei der Minderheit radikal. Dadurch ist bei den Minderheitsungarn jene national begründete Vorstellung der idealen ungarischen Heimat entstanden, die von der politischen Elite im Mutterland, die das Verkümmern des Nationalgefühls im eigenen Land geißelte, immer häufiger als vorbildlich angepriesen wurde. Denn inzwischen hat sich in Ungarn wie in den anderen ostmitteleuropäischen Ländern eine mehr oder weniger ähnliche Wende vollzogen: die Nationalisten haben die Heimat für sich enteignet.
Als Gymnasiast musste ich in der Reifeprüfung über Endre Adys Lyrik referieren, und so hatte ich den Heimatbegriff in seinem Geist interpretiert. In diesem Punkt bin ich ihm und den anderen großen Lyrikern meiner Muttersprache, zum Beispiel Attila József, treu geblieben. Sie pflegten eine kritische Liebe zur Heimat. Neuerlich hingegen hat die kritische Einstellung sowohl in Ungarn als auch in Serbien eine Art Ausgrenzung zur Folge. Wer kritisiert, landet früher oder später im Niemandsland. Nur kann das Niemandsland glücklicherweise von niemandem enteignet werden. Dort kann man noch über die Heimat reden, wie Endre Ady oder Attila József über sie redeten. In kritischem Geist.
Der wirkliche Minderheitsbürger, der keine vorgetäuschte Heimat für sich gefunden hat, lebt immer zwischen zwei Heimaten. Das ist sein Erkennungszeichen! Er verleugnet weder die eine noch die andere, und er macht auch mit keiner der beiden Geschäfte. Die Heimat meiner Sprache ist nicht die Heimat meines Alltags, die Heimat meines Alltags wiederum ist nicht die Heimat meiner Sprache. Die Folgen dieses Widerspruchs mit sich tragend, befinde ich mich in konträrer Position zu den heute herrschenden Patrioten, die die Begriffe von Heimat und Nation gleichsetzen. In dieser Lage bin ich weder hier noch dort, ich bin nirgendwo zu Hause.
So wurde ich, so konnte ich zwischen zwei Heimaten heimatlos werden. Ein heimatloser Lokalpatriot.
Übersetzt von Lajos Adamik
In: Hazám [Meine Heimat]. Noran Libro Kiadó, Budapest, 2015, S. 110-113, Originaltitel: A hontalanság dicsérete