Zivilsphäre und Bildung
Das „Zigeunermädchen“ mit drei Universitätsabschlüssen

Szilvia Lakatos
Szilvia Lakatos | © UnivPécs, Foto: Szabolcs Csortos

Dr. Szilvia Lakatos ist am Lehrstuhl für Romologie und Erziehungssoziologie der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Pécs tätig. Nebenbei leitet sie auch die Zivilorganisation Khetanipe. Sie ist immer eine ausgezeichnete Anlaufstelle für einen Rat, eine Zurechtweisung oder einfach nur eine Portion gute Laune.

 
Seit wann und als was genau bist du an der Universität Pécs tätig?
 
Im Zuge meines Sozialpolitik- und Soziologiestudiums kam ich auch mit den Spezialisierungen der Romologie in Kontakt. Romanes (Lovari) spreche ich auf Muttersprachenniveau, aber die Grammatik habe ich mir erst hier, an der Universität angeeignet. 1998 begann ich als Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Romologie, wie er damals hieß, zu arbeiten. Ich muss dir sicher nicht sagen, was das für eine riesige Herausforderung für mich war! In erster Linie unterrichte ich Romanes, aber ich halte auch Kurse zu unterschiedlichen, mit der Romologie in Zusammenhang stehenden Themenbereichen ab, so zum Beispiel über Roma-Zivilorganisationen oder die Roma-Minderheitenselbstverwaltung.
 
Warum ist es dir ein Anliegen, die Sprache am Leben zu erhalten?
 
Das hat mehrere Gründe. Mein persönlicher Bezug ist klar: Romanes, beziehungsweise genauer gesagt der Dialekt Lovari – den ich auch unterrichte – war die Muttersprache meiner Eltern. Mit der Roma-Identität sind auch die Sprachkenntnisse eng verbunden, und ich bin sehr stolz darauf, dass ich diese Sprache spreche. Es bedeutet mir wirklich viel, dass sich nicht nur Jugendliche mit Roma-Herkunft, sondern immer öfter auch nicht-romastämmige Menschen für unsere Sprache interessieren. Meine Studierenden erkundigen sich nach unseren Bräuchen und trauen sich auch die Fragen zu stellen, die ihnen seit Langem im Kopf umhergeistern, die sie sich bisher aber nicht zu stellen getraut haben oder die sie bisher einfach niemandem stellen konnten. So bekommen sie also über das Erlernen der Sprache praktisch auch die Möglichkeit, das Leben der Roma-Gemeinschaft kennenzulernen. Außerhalb der Universität halte ich, ehrenamtlich, auch in unserer Organisation Khetanipe Sprachkurse ab.

Zivilsphäre und Bildung

Erzähl uns doch ein bisschen etwas über Khetanipe und deine Arbeit bei dieser Organisation!
 
Die Organisation wurde 1999 gegründet, seit 2000 bin ich die Leiterin. Ihr Tätigkeitsfeld ist sehr breit, in erster Linie erhalten wir uns über finanzielle Mittel aus Ausschreibungen. Zuletzt bekamen wir nach erfolgreicher Bewerbung eine Förderung für unser Förderzentrum Tanoda, das Schülern vorübergehende Hilfestellung leistet, aber bis Dezember war auch noch unser Familienhort in Betrieb, ja, wir haben sogar ein Programm für frühkindliche Förderung. All diese Programme ermöglichen die Erziehung und Bildung der Kinder unter Einbeziehung von Expertinnen und Experten. Der andere wichtige Tätigkeitsbereich unserer Organisation (im Rahmen des Programms Help) ist der Arbeitsmarktservice, das heißt, wir unterstützen arbeitslose Roma, die sich an uns wenden, bei der Ausbildungs- und Arbeitssuche.
 
Khetanipe bedeutet „zusammen“ beziehungsweise „Einheit“. Aus wem besteht denn diese Einheit?
 
Momentan arbeiten 33 Personen in der Organisation. Wir haben drei Standorte, einer befindet sich in der Innenstadt von Pécs, die anderen zwei in zwei segregierten Stadtteilen: an einem Standort, im Jószerencsét Közösségi Ház (Gemeinschaftszentrum Glückauf) am Hősök tere, betreiben wir zum Beispiel unser Förderzentrum, den anderen Standort haben wir in Istvánakna eröffnet, in einer Gegend also, in der die Ansässigen bisher überhaupt keinen Zugang zu Gemeinschaftszentren hatten. Auch für Roma-Kinder ist es sehr wichtig, dass sie eine qualitativ hochwertige Bildung bekommen, schließlich sind sie ja ebenfalls die Generation der Zukunft. Wenn diese Kinder später ihren Arbeitsverdienst mithilfe ihres Wissens erzielen können, wirft das auch einen wirtschaftlichen Ertrag ab und das wirkt sich auf alle ungarischen Bürgerinnen und Bürger aus.
 
Warum war es dir wichtig, die Organisation als Partnerinstitution der Universität Pécs ins Leben zu rufen?
 
Ich war der Ansicht, dass die Zusammenarbeit von gegenseitigem Nutzen sein könnte, da sie den Studierenden eine tolle Möglichkeit bietet, Erfahrungen zu sammeln. Im Rahmen ihrer Praxis im Bereich Gemeinschaftspädagogik übernehmen die Studierenden 50 Stunden Freiwilligenarbeit an einem der drei erwähnten Standorte. So haben sie die Chance, die Arbeit unserer Zivilorganisation kennenzulernen, ihr soziales Netzwerk auszuweiten, ihren Horizont zu erweitern, das Gute an der Freiwilligenarbeit zu erkennen, ihre Empathie zu stärken – und ich könnte noch viele andere positive Aspekte nennen. Und auch für uns ist das eine Bereicherung, schließlich ist es ein tolles Gefühl zu sehen, wie engagiert und verlässlich die Studierenden ihre Aufgaben erledigen, wie sie zum Beispiel die Kinder unterrichten oder die Freizeit-Programme abhalten. Wir arbeiten außerdem mit dem Roma-Fachkolleg Henrik Wlislocki zusammen, also wir können auch die Studierenden dieses Kollegs zu unseren freiwilligen Helferinnen und Helfern zählen. Es ist interessant, wie so ein Kennenlernprozess ins Rollen kommt, und dann eine Sache die nächste bringt. Ich bin mir sicher, dass die Studierenden, die bei uns Freiwilligenarbeit leisten, im Zuge ihrer Lehrtätigkeit einen offenen Umgang mit ihren Roma-Schülerinnen und -Schülern an den Tag legen werden.

„Du hast einen Mann und zwei Kinder, ich verstehe nicht, wozu du das brauchst…“

Du warst ein „Zigeunermädchen” mit schreibunkundiger Mutter, und jetzt hast du drei akademische Abschlüsse, unterrichtest an der Universität, leitest eine Organisation und wurdest vor Kurzem mit dem József-Eötvös-Preis ausgezeichnet.
 
Manchmal macht es mich traurig, dass ich meiner Mutter nicht mehr zeigen konnte, dass man seinen Lebensunterhalt nicht nur mit physischer, sondern auch mit geistiger Arbeit verdienen kann, mit seinem Wissen. Es wäre so schön gewesen, wenn sie hätte sehen können, dass ihr Kind sehr wohl auch das Zeug zu so etwas hat. Als ich an der Universität angenommen wurde, fragte sie mich: „Universität? Was ist das? Wozu brauchst du das? Du hast einen Mann und zwei Kinder, ich verstehe nicht, wozu du das brauchst ...“ Ich hätte mich gefreut, wenn sie noch erlebt hätte, was für Perspektiven mir das Studieren eröffnet und wie sehr es mir mein Leben erleichtert hat. Leider hatte sie dazu nicht mehr die Möglichkeit, meine Mutter ist viel zu früh von uns gegangen. Meinen Töchtern, meiner Familie und den Roma-Studierenden und Roma-Kindern, mit denen ich in Verbindung stehe, versuche ich aber ein gutes Beispiel zu sein, ihnen gegenüber betone ich auch immer, wie wichtig Bildung ist!
 
Um deine bisherigen Ziele erreichen zu können, hast du viel Willenskraft und Energie gebraucht. Hast du die Hürden als schwierig erlebt?
 
Das stimmt, aber ich bin ein Mensch, der, wenn er etwas beginnt, es auch zu Ende führt. Mich zeichnet meine Ausdauer aus. Probleme sehe ich als Aufgaben, die bewältigt werden müssen.
Selbstverständlich stößt jeder auf Schwierigkeiten im Leben und bei der Arbeit, auch ich. Das ist ganz natürlich, also sehe ich diese Schwierigkeiten nicht als unbezwingbare Hürden, sondern als Herausforderungen an. Eine Voraussetzung der wissensbasierten Gesellschaft ist das lebenslange Lernen. Und ich habe mir da auch schon zwei Fortbildungen herausgesucht, ich werde mich also ganz bestimmt noch weiterbilden! (Sie lacht.)