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Interview mit Thomas Irmer
Eine neue Generation, die mich jubeln macht

Thomas Irmer
© Thomas Irmer

Sie kennen das ungarische Theater sehr gut. Können Sie uns sagen, wie sich diese Beziehung entwickelt hat?
  

Am Anfang standen die Besuche in den wilden achtziger Jahren, als ich Student war und noch gar nicht professionell über Theater arbeitete. Budapest war damals sehr attraktiv, besonders für Ostdeutsche, und ich hatte Freunde dort, die mich in sehr verschiedene Szenen mitnahmen. Da standen das “Fekete Lyuk” mit verrückten Aktionen neben der Kontinentalpremiere von Cats (ja, in Budapest!) nebeneinander. Das reguläre Theater habe ich damals nicht wahrgenommen, aber es wurde viel erzählt davon – und die Sachen wurden damals mit dem kritischen Theater in der DDR verglichen.

Ende der 90er Jahre wurde ich Redakteur von Theater der Zeit und zu meinen Zielen gehörte, das Theater in den ostmitteleuropäischen Ländern wieder zu entdecken nach einem praktisch “ausgefallenen” Jahrzehnt der Kenntnis. Was ist da vor allem in Polen und Ungarn passiert? Als Gastregisseure waren damals in Berlin aber schon Árpád Schilling (Schaubühne) und Tamás Ascher (Berliner Ensemble), allerdings mit mäßigem Erfolg. Dann gab es aber die Gastspiele von Schilling (mit Möwe) und das Interesse wuchs. Mit Krétakör wurde vielleicht zum ersten Mal in den 90er Jahren wieder etwas aus dem ‘Osten’ ernsthaft wahrgenommen, später kam als einzig beständige Größe noch Alvis Hermanis dazu. Das war interessant, denn man sah die extreme Qualität eines jungen Theaters mit großer Ernsthaftigkeit, die politischen Probleme waren da noch nicht dabei – und auch wenig bekannt. Aber Schilling war sicher der Vorreiter und auch Vorbereiter für dieses Interesse am neuen ungarischen Theater. Wichtig war auch, dass es durch freie Gruppen repräsentiert wurde und nicht durch Staatstheater. Darin wurde von deutschen Theaterkennern und auch Theatermachern etwas sehr Positives gesehen.

Ein paar Jahre später war ich von 2003 bis 2006 Dramaturg beim internationalen Theaterfestival der Berliner Festspiele und wir produzierten einen kleinen ungarischen Schwerpunkt mit János Mohácsi und Béla Pintér, die damals bei uns noch unbekannt waren. Mit beiden konnten wir großes Interesse wecken und mit beiden war es für mich auch eine Lehrzeit darüber, was diese ungarischen Theaterkünstler im Inneren bewegte. Das ist wahrscheinlich der Punkt, wo ich den richtigen Anschluss fand und nicht mehr aufgehört habe, diese Szene zu verfolgen. Es folgte auch eine Zusammenarbeit mit der Zeitschrift “Színház”, wo Andrea Tompa mich dann immer wieder auf wichtige Sachen aufmerksam machte, so dass ich sogar ein paar frühe Sachen von Kornél Mundruczó gesehen habe, der heute wahrscheinlich der anerkannteste ungarische Theatermacher in Deutschland ist.

Warum, glauben Sie, haben deutsche Theater begonnen, sich für talentierte junge ungarische Künstler wie Viktor Bodó, Kornél Mundruczó und András Dömötör zu interessieren?

In der Regel werden in Deutschland Regisseure entdeckt und der Innovationshunger, ein grenzenloser Appetit, schleust alles ein, was im deutschen Theater Interesse und Erfolg verspricht. Das hat sich in den letzten 20 Jahren entwickelt – mit der zentralen Rolle von Regiekunst im deutschen Theater wurde das Feld geöffnet. Und zwar in alle Himmelsrichtungen bzw. Theaterkulturen. In den 1980er Jahren war vielleicht nur Robert Wilson im westdeutschen Theater als nichtdeutscher Regisseur vorhanden, auch als Avantgarde-Exot. Zwei Jahrzehnte später sah da völlig anders aus. Ausländische Regisseure, zuerst aus den Niederlande / Belgien, dann aus anderen Kulturen, sollten neue Ideen und Arbeitsweisen ins deutsche Theater bringen. Das ist – man kann das nicht pauschalisieren – im Theater auch so etwas wie eine gegenseitige Assimilation, mit nicht immer guten Ergebnissen. Auslandsregie passt sich ans deutsche Theater an, weil es natürlich auch um den Erfolg geht, deutsches Theater wirkt in die künstlerischen Auffassungen des Gasts zurück. Ich könnte Schilling (damals) und Mundruczó (gerade an der Volksbühne) als Beispiel nennen. Auch Bodó hatte es anfangs nicht leicht. Gerade Regisseure, die aus einer Kultur der mit ihnen sehr vertrauten Schauspieler kommen, mit denen sie sozusagen die kleinsten Schwingungen von Ausdruck und Ironie und Magie hervorzaubern, die das Ganze dann ausmachen, sind im deutschen Theater schon gescheitert. Ich habe das selbst bei einem Magier wie Luk Perceval beobachtet. Aber es muss nicht passieren. András Dömötörs Uraufführung von Thomas Perles “karpatenflecken” am Deutschen Theater in Berlin, keine leichte Sache, hat alles wunderbar zusammengebracht, ein Glücksfall.  

Welche Schwierigkeiten sehen Sie als Theaterkritiker für einen ausländischen Künstler auf deutschen Bühnen, in einem Umfeld, in dem sowohl die Kritik als auch das Publikum härter und offener ihre Meinung sagen?

Habe ich eigentlich schon mit der letzten Frage halb beantwortet. Was die Außenwahrnehmung angeht, ist das sehr unterschiedlich, wie die Herkunft eines Regisseurs in die Kritik mit einbezogen wird. Das kann hier sehr unterschiedlich ausfallen. Wie ich anfangs sagte, wurden die neuen ungarischen Regisseure in den 2000ern vor allem vom ästhetischen und theatral-gesellschaftsrelevanten Interesse her bewertet. Das entsprach auch der Theatersituation im Interesse an der Gesellschaft – hier und dort. Das ist, was Ungarn betrifft, total weg. Ungarn kommt hier in den Nachrichten nur noch mit Orbán vor, und das ist total falsch. Aber ungarische Kultur und Literatur ist in Deutschland vor allem eine Sache von Spezialisten geworden. Das ist sehr, sehr traurig.

Haben Sie einen Rat für junge ungarische Theatermacher/-innen?

Ich möchte die letzten Fragen einfach nur so beantworten: “Die ungarische Akazie” von Kristóf Kelemen ist vielleicht ein Wendepunkt, wie alles wieder anders zusammen kommt. Da sehe ich eine neue Generation, die mich jubeln macht!!!!
  
  
Das Interview wurde geführt von der Dramaturgin Kinga Keszthelyi
  

 

THOMAS IRMER

Thomas Irmer ist Theaterwissenschaftler und -kritiker und schreibt regelmäßig für die Zeitschrift Theater der Zeit (wo er seit 2022 wieder Chefredakteur ist), veröffentlichte früher in Theater heute und der norwegischen Zeitschrift Shakespeare. Er hat auch für eine Reihe von internationalen Festivals gearbeitet, zum Beispiel als Dramaturg für spielzeit europa / Berliner Festspiele von 2003 bis 2006. Seine jüngsten Bücher sind: "Andrzej Wirth. Flucht nach vorn. Erzählte Autobiographie und Materialien" (2013), "Maria Steinfeldt. Das Bild des Theaters" (2015) und "Klaussner. Backstage" (2019). In seiner akademischen Forschung hat er sich mit dem neuen Phänomen der Internationalisierung des deutschen Theaters beschäftigt und 2014/15 eine Lehrveranstaltung zu diesem Thema an der Universität Osnabrück gehalten. Er hat auch Dokumentarfilme über Theater und Theatergeschichte gedreht, darunter den preisgekrönten Film "Die Bühnenrepublik" (2004) sowie "Ich will nicht wissen, wer ich bin – Heiner Müller" (2009). Er lebt derzeit in Berlin.

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