Jürgen Habermas
Europa, Ungarn und das Projekt einer transnationalen Demokratie
Jürgen Habermas in Budapest | © Kerekes Zoltán
Mehr als eintausend Interessierte versuchten am 29. Mai 2014 in Budapest, sich einen Platz in der Vorlesung von Jürgen Habermas zu sichern. Der Philosoph und Soziologe sprach über das immer größer werdende Missverhältnis zwischen einer zusammenwachsenden Weltgesellschaft und der fragmentierten Staatenwelt der Nationalstaaten. Auszüge aus seinem Vortrag.
Nationalstaaten als Garanten von Recht und Freiheit
„Wir stehen vor dem Problem, wie wir die Europäische Union und insbesondere die Zusammenarbeit der Euroländer weiter vertiefen können, ohne die Nationalstaaten als Garanten von Recht und Freiheit auszuhebeln. Von hier aus fällt allerdings auch ein Licht auf Konflikte, die in Ungarn selbst ausgetragen werden müssen.“Wachsendes Missverhältnis zwischen einer voranschreitenden Globalisierung und der fragmentierten Staatenwelt
„Dieses Problem ist aus dem wachsenden Missverhältnis zwischen einer systemisch zusammenwachsenden Weltgesellschaft und der nach wie vor unveränderten Fragmentierung der Staatenwelt entstanden. Die mit dem Willen und Bewusstsein ihrer Bürger integrierten Staaten sind nach wie vor die einzigen Kollektive, die auf der Grundlage demokratischer Willensbildung effektiv handeln und auf ihre nationalen Gesellschaften gezielt einwirken können. Diese Staaten verstricken sich nun immer tiefer in die funktionalen Zusammenhänge, die durch nationale Grenzen hindurchgreifen. Vor allem globalisierte Märkte und digitale Verbindungen knüpfen, gewissermaßen hinter dem Rücken der Nationalstaaten, netzförmige Interdependenzen. Gleichzeitig wächst angesichts der politisch unerwünschten Nebenfolgen dieser naturwüchsigen systemischen Integration ein Steuerungsbedarf, den die Nationalstaaten immer weniger bewältigen. … Tatsächlich kann der fehlende nationale Handlungsspielraum nur auf supranationaler Ebene wettgemacht werden. … Aber diese internationalen Vertragsregimes entziehen sich weitgehend demokratischer Kontrolle. … Auch wenn es noch so gute Gründe für eine Fortsetzung der europäischen Integration gibt, sollten wir dafür den Preis eines supranationalen Paternalismus in Kauf nehmen?“Bedingungen für eine gemeinsame demokratische Willensbildung
„An dieser Stelle müssen wir allerdings den Kurzschluss vermeiden, es sei der fehlende europäische Demos, an dem ein überstaatliches und gleichwohl demokratisches Gemeinwesen scheitern müsse. Damit würde der Gedanke entgleisen. Für die Teilnahme an einer gemeinsamen demokratischen Willensbildung ist nämlich keine Homogenität von Volksgenossen notwendig, keine Homogenität der Abstammung, der Tradition, der Sprache oder gar der Religion. Nötig sind vielmehr drei Bedingungen ganz anderer Art: eine gemeinsame politische Öffentlichkeit, ein gemeinsamer politisch-kultureller Hintergrund und ein gewisses Maß an reziprokem Vertrauen, das die Bereitschaft einschließt, in der politischen Willensbildung auch die Perspektive der jeweils anderen nicht zu ignorieren.Ich meine, dass in Europa zwei dieser drei Bedingungen leicht erfüllt werden könnten. Die … offiziell gewordene translinguale Staatsbürgerschaft … ist ein Novum; um sie mit Leben zu erfüllen, brauchen wir zwar eine europaweite, aber keine neue Öffentlichkeit. Dafür genügen nämlich die bestehenden nationalen Öffentlichkeiten; diese müssen sich nur weit genug füreinander öffnen. … Im Hinblick auf den gemeinsamen politisch-kulturellen Hintergrund, also die zweite Bedingung, genügt die übereinstimmende Anerkennung liberaler und demokratischer Grundrechte.“
Das Defizit an Vertrauen zwischen Bürgern verschiedener Nationen
„Aber wie steht es mit der dritten Bedingung? Heute fehlt es tatsächlich noch an dem reziproken Vertrauen, das die Bürger verschiedener Nationen zueinander haben müssten, wenn sie in der politischen Willensbildung über gemeinsame föderale Angelegenheiten eine gemeinsame Perspektive einnehmen sollen. … In reifen Demokratien des Westens erklärt sich bei genauerem Hinsehen das für die europäische Einigung relevante Vertrauensdefizit nicht in erster Linie negativ aus einer Abstoßung und xenophoben Abschottung gegen fremde Nationen, sondern positiv aus einem Beharren auf den normativen Errungenschaften des jeweils eigenen Nationalstaates. … Daher haben diese Bürger ein wohlbegründetes Interesse daran, dass ihr Nationalstaat als Garant dieser Errungenschaften erhalten bleibt und nicht dem Risiko von Ein- und Übergriffen vonseiten eines unvertrauten supranationalen Gemeinwesens ausgesetzt wird. … Die Selbstbehauptung einer demokratisch verfassten Bürgergesellschaft ist etwas anderes als das reaktive Anklammern an naturalisierte Merkmale einer ethnonationalen Herkunft, von dem der Rechtspopulismus zehrt.“„Doppelter Souverän“: Europäische Bürger und europäische Völker
„Für die Lösung dieses Problems schlage ich ein Gedankenexperiment vor: Lassen wir uns eine demokratisch entwickelte Europäische Union so vorstellen, als sei deren Verfassung von einem doppelten Souverän ins Leben gerufen worden. Die konstituierende Gewalt soll sich aus der Gesamtheit der europäischen Bürger einerseits, den europäischen Völkern andererseits derart zusammensetzt haben, dass schon während des verfassungsgebenden Prozesses die eine Seite der anderen mit dem Ziel des Ausgleichs der entsprechenden Interessenlagen ins Wort fallen konnte. … Das Europäische Parlament müsste Gesetzesinitiativen einbringen dürfen, und das sogenannte ordentliche Gesetzgebungsverfahren, das die Zustimmung beider Kammern erfordert, müsste auf alle mit der Union geteilten Politikfelder ausgedehnt werden. Sodann müsste der Europäische Rat, also die Versammlung der Regierungschefs, die bis heute eine halbkonstitutionelle Stellung genießen, dem Ministerrat eingegliedert werden. Und schließlich müsste die Kommission die Aufgaben einer dem Rat und dem Parlament gleichermaßen verantwortlichen Regierung übernehmen. Mit dieser Umwandlung der Union in ein demokratischen Maßstäben genügendes supranationales Gemeinwesen würden die Prinzipien der Staatengleichheit und der Bürgergleichheit paritätisch berücksichtigt.“Den Text des Vortrags von Jürgen Habermas in voller Länge finden Sie hier. (PDF, 129 KB)
Der Vortrag auf Ustream mit ungarischer Simultanübersetzung
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