Jürgen Habermas
Abschied von einer Philosophin
Vom Fallibilismus der Wissenschaften, nach dem es keine unfehlbare Erkenntnisinstanz gibt, unangekränkelt: Zum Tod der leidenschaftlichen und lebensklugen Ágnes Heller.
Als ich ihr dieses Jahr mit schlechtem Gewissen, weil viel zu spät, zu ihrem neunzigsten Geburtstag gratulierte, schrieb Ágnes Heller ohne eine Spur von Kränkung zurück: "Glückwünsche kommen nie zu spät". Aber Todesnachrichten kommen immer zu früh. Ágnes Heller war bis zuletzt eine Person von sprühender Lebendigkeit. Die Sprungfeder ihres Geistes konnte einfach nicht ermüden. Rückblickend meint man, es schon immer gewusst zu haben: Zu dieser Person passt nur ein plötzlicher Tod. Und nun die Nachricht, dass sie vergangenen Freitag während ihres Urlaubs auf den Plattensee hinausschwamm - und nicht zurückkehrte. Ágnes Heller selbst hätte nicht dazu geneigt, eine solche Nachricht romantisch zu verklären; aber ich kann mir gut vorstellen, wenn mir dieser tröstliche Gedanken erlaubt ist, dass sie sich ein kontingentes Zuschlagen des Todes gewünscht hat.
Ágnes Heller war eine Philosophin der alten Schule. Als ich sie Mitte der sechziger Jahre bei Iring Fetscher in Frankfurt kennenlernte und ihr bei den jährlichen Treffen der Praxis-Philosophen auf der Insel Corcula wiederbegegnete, erschien sie uns, bei aller Verwandtschaft in der kritischen Orientierung ihrer Gedanken, als die junge, bestechende Verkörperung eines philosophischen Profils, das wir aus der Generation unsrer Lehrer kannten. Aus unserer Perspektive hatte sich unter den interessanteren Kollegen des "Ostblocks", wie man damals sagte, ein Erbe des deutschen Idealismus erhalten - eine vom Fallibilismus der Wissenschaften noch unberührte Selbstgewissheit, die wir aus der zeitgenössischen Philosophie der westlichen Länder nicht mehr kannten. Dieses ungebrochene philosophische Selbstbewusstsein verband sich bei der jungen Ágnes Heller mit der Frische eines unbefangen-offenen Geistes - und traf wohl überhaupt einen Zug an der Mentalität jener Schüler, die sich im Budapest der fünfziger Jahre um Georg Lukács versammelt hatten. Aber diese Beobachtung konnte den Blick auf die geistige und politische Unabhängigkeit, den humanistischen Impuls und die wissenschaftliche Produktivität dieser Gruppe nicht verstellen. Das Bewusstsein geistiger Souveränität war wohl auch ein Schutzschild für Ágnes Heller und ihre Freunde, die nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1956 als politische Dissidenten verfolgt und schließlich zur Emigration genötigt wurden.
Im Laufe der Jahrzehnte habe ich gelernt, in diesem idealistischen Selbstverständnis und dem Gefühl, ja, einer gewissen Berufung zur Philosophie nur eine andere Seite des bewundernswert festen Charakters einer stolzen, zugleich mutigen und lebensklugen Frau zu sehen. Angesichts der Präsenz dieser starken Persönlichkeit frage ich mich, ob nicht den Lesern, die nur ihre Bücher kennen, ein guter Teil der Energie und der Leidenschaft dieser Autorin unzugänglich bleiben muss. Das mag für ihr erstes, 1967 in Ungarn erschienenes Buch "Der Mensch in der Renaissance" am wenigsten zutreffen: An dieser Epoche und ihren großen Erscheinungen feiert Ágnes Heller ganz unverstellt den humanistischen Geist und die in ihm kristallisierten Tugenden. Was sie als Philosophin auszeichnet und mit Hannah Arendt tatsächlich verbindet, ist die Fähigkeit, diese Emphase für erhebende Ideen mit den verblüffend einfachen Evidenzen alltagskluger Erfahrungen und Weisheiten zusammenzuführen.
Ágnes Heller ist eine Philosophin im alteuropäischen Sinne. In ihrem Denken spiegelt sich ein ungewöhnliches Leben, eine schmerzhafte Lebensgeschichte. In dieser hat das Zeitalter der Extreme tiefe Narben hinterlassen. Sie war noch keine fünfzehn Jahre alt geworden, da hatte sie schon, ohne dass sie davon je Aufhebens gemacht hätte, grauenhafte Erfahrungen überstanden. Das junge Mädchen und ihre Mutter waren nur durch Zufall und Geschick Deportation und Erschießung entkommen, während der Vater von den Nazis ermordet wurde. Aufgewachsen im kommunistischen Ungarn, verlor die Assistentin von Lukács 1956 ihre Stelle und die Aussicht auf eine akademische Karriere; sie arbeitete zeitweise als Lehrerin, setzte unter schwierigen Umständen ihre philosophische Arbeit fort und musste schließlich nach Australien emigrieren. Die daran anschließenden Jahre als Professorin an der New School of Social Research in New York, die während der NS-Zeit für die Aufnahme von Emigranten aus Deutschland und Europa gegründet worden war, versprachen der jüdischen Philosophin endlich das verdiente Ende der politischen Verfolgung. Aber als die Emigrantin endlich in ihre Heimat zurückkehrte, wurde sie unter Viktor Orbáns illiberaler Demokratie erneut Schikanen, öffentlichen Anfeindungen, ja antisemitischer Pöbelei ausgesetzt. Es hörte nicht auf. Natürlich hat sie auch diese deprimierende Erfahrung nicht daran gehindert, dem Regime öffentlich zu widersprechen und den Jüngeren Mut zu machen. Eine Beruhigung hat ihr das Leben nicht zugestanden.
Ágnes Heller hat sich nicht als Intellektuelle verstanden; sie hat auf ihre Weise als Philosophin gelebt. Und daraus die Kraft geschöpft, an den Widerständen des Zeitalters nicht zu zerbrechen.