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Interview mit Prof. Dr. Dorothee Wierling
Familientraumata über Generationen

Dorothee Wierling
Prof. Dr. Dorothee Wierling | Zentrum.hu

Am 30. September eröffnete Prof. Dr. Dorothee Wierling, Historikerin und Expertin für Zeitgeschichte die gemeinsame Konferenz „Unser aller Geschichte“ des Goethe-Instituts Budapest und des Független Médiaközpont (Unabhängiges Medienzentrum). Im Fokus der Konferenz standen die Narrative über den Zweiten Weltkrieg und die Ereignisse von 1945 vorgestellt anhand von Familiengeschichten. Wir nutzen die Gelegenheit für ein kurzes Interview mit der Expertin.

Wie deuten Sie Erinnerungsgeschichte? 

Ich spreche ja eher von Erfahrungsgeschichte. Damit ist gemeint, dass die subjektiven Erfahrungen von historischen Ereignissen und Prozessen von großer Bedeutung dafür sind, wie die Menschen die Vergangenheit deuten, und welche Schlüsse sie daraus für ihre Lebensentscheidungen, ihre politische Haltung und ihre Zukunftserwartungen ziehen. Wenn wir die subjektiven Verarbeitungen von historischen Erlebnissen verstehen, verstehen wir zugleich das Wirken von Geschichte in die Gegenwart und Zukunft hinein.
 
Wie lassen sich die widersprüchlichen Narrative über den Zweiten Weltkrieg und die Ereignisse danach miteinander versöhnen? Was sind Ihre Erfahrungen?

 
Der Zweite Weltkrieg hat wie kein anderes historisches Ereignis die Lebenserfahrung der älteren Generationen bestimmt – also der Geburtsjahrgänge bis in die 1940er Jahre hinein. Es sind Erfahrungen unermesslicher Gewalt, Verbrechen, Leiden, Tod, Zerstörung, Heimatverlust; im Westen begann mit dem Kriegsende die Zeit des Wiederaufbaus, dann des relativen Wohlstands, vor allem des Friedens; im Osten Europas gingen mit dem Stalinismus politische Gewalterfahrungen für Viele weiter. Diese oft traumatischen Erfahrungen wurden anfangs überwiegend beschwiegen; erst später wurde darüber in Familien und Gesellschaft gesprochen, in den staatssozialistischen Ländern begann die öffentliche Auseinandersetzung erst in den 1990er Jahren. Dabei stellte sich heraus, dass die Erlebnisgenerationen in diesen Geschichten sicher unterschiedliche Positionen eingenommen hatten und unterschiedliche Erfahrungen gemacht hatten, die sie nun auch verteidigen wollten. Diese Positionen lassen sich nicht in einfache Schemata zwängen, etwa Täter und Opfer. Zugleich geht es bei Gewalt- und Unrechtserfahrungen immer um verschiedene Perspektiven, z. B. die des Opfers, des Zuschauers, des Profiteurs, des Helfers, des Eingeschüchterten usw. Wenn darüber heute, 80 Jahre danach, gesprochen wird, sollten wir vor Allem versuchen zu begreifen, wie diese Gewalt entstehen konnte, unter welchen Bedingungen man zum Täter werden konnte, warum Menschen sich gegen diktatorische Macht nicht gewehrt haben usw. Am Anfang der Versöhnung steht immer der Versuch, sich in die Position des Anderen hineinzuversetzen und zu versuchen, seine Sichtweise auf die Vergangenheit nachzuvollziehen, auch ohne sie zu teilen.

Prof. Dr. Dorothee Wierling Prof. Dr. Dorothee Wierling, Historikerin und Expertin für Zeitgeschichte, war von 2003 bis 2015 stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Davor war sie auch an zahlreichen renommierten Universitäten in Deutschland und im Ausland (USA, England etc.) als Gastprofessorin tätig, betreut mehrere Dissertationen und führt zahlreiche Forschungen durch. Daneben ist sie noch Mitglied im Herausgeberkreis von verschiedenen historischen Buchreihen und Zeitschriften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vor allem die Oral History, Geschlechter- und Generationengeschichte und die Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. | © FZH Wie hat sich die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland über die Jahrzehnte hinweg verändert? Wie ist es heute? Was für Unterschiede gibt es dabei zwischen den Generationen?
 
In Deutschland kam 1945 zu der Gewalterfahrung die Frage der Schuld. Denn es konnte ja gar kein Zweifel daran bestehen, dass der Zweite Weltkrieg im „Dritten Reich“ geplant wurde und als Angriffskrieg, in Richtung Osten auch als Vernichtungskrieg ausgeführt wurde. Zunächst konnten alle Deutschen, die weder aus politischen, „rassischen“ oder religiösen Gründen verfolgt wurden von der Politik der Nazis und vom Krieg profitieren. Das kehrte sich erst ab 1943 um. Am stärksten wog in Westdeutschland die Schuld am Völkermord an den Juden; in der DDR standen die antifaschistischen Kämpfer und die sowjetischen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter im Zentrum des öffentlichen Schuldbekenntnisses. Unterhalb dieser öffentlichen Eingeständnisse fühlten sich die Deutschen selbst nach der Niederlage und den Zerstörungen im Land als Opfer des Krieges und machten sich ihre persönliche Schuld kaum bewusst.

Erst die nach dem Krieg geborene Generation begann, die Eltern auch persönlich zu befragen und anzuklagen. Daraus entwickelte sich, allerdings nur in Westdeutschland, ein handfester politischer Generationenkonflikt. Spätestens seit den 1990er Jahren hat sich diese Debatte verändert. Die jetzt selbst gealterten Nachkriegsgeborenen haben sich mit ihren schon verstorbenen Eltern in gewisser Weise ausgesöhnt. Und die Enkelgeneration identifiziert sich teilweise stark mit der Opfergeschichte ihrer Großeltern.     
 

Am Anfang der Versöhnung steht immer der Versuch, sich in die Position des Anderen hineinzuversetzen und zu versuchen, seine Sichtweise auf die Vergangenheit nachzuvollziehen, auch ohne sie zu teilen.

Die durch Bombenangriffe zerstörte Stadt Köln Die durch Bombenangriffe zerstörte Stadt Köln im Zweiten Weltkrieg | Pixabay Wie lassen sich Familientraumata über die Generationen hinweg verarbeiten? Wie ist Ihre Erfahrung auf Grund Ihrer Arbeit mit Zeitzeugen?
 

Legt man einen engen Traumabegriff zugrunde, dann ist das psychische Trauma gerade dadurch charakterisiert, dass die Menschen, denen es widerfuhr, es nicht erinnern und nicht erzählen können, weil das Erlebte so ungeheuerlich ist, dass es „abgespalten“ wurde. Trauma im weiteren Sinn aber kann erzählt werden. Allerdings haben viele Menschen dies verweigert, weil sie vermeiden wollen, das Schreckliche beim Erzählen noch einmal zu durchleben; ausserdem wollen sie ihre Kinder damit nicht belasten. Wir wissen, dass diese verschwiegenen Schrecken sich trotzdem auf die Kinder übertragen können, aber unverstanden bleiben. Verarbeitung scheint ohne Erzählung nur schwer möglich, kann aber nicht erzwungen werden. Die Nachkommen können immer nur anbieten, mit Geduld, Respekt und Empathie zuhören zu wollen.

Gibt es eine Erinnerungsgemeinschaft der Vertriebenen, die nach dem Ende des Krieges nach Deutschland kamen? Wie gehen sie mit ihren Wurzeln um?

Nach 1945 kamen 14 Millionen vertriebenen Deutsche in das besetzte Kerngebiet Nachkriegsdeutschlands. Vier Millionen blieben in der sowjetisch besetzten Zone, später DDR; zehn Millionen ließen sich in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik nieder. In der DDR wurden sie „Aussiedler“ genannt und so schnell wie möglich integriert – allerdings unter schwierigen materiellen und politischen Verhältnissen. Da die Regierung der DDR die neue Ostgrenze sofort anerkannte, konnten die von dort Vertriebenen bzw. Geflüchteten nicht auf Rückkehr hoffen. Schon 1950 wurden die „Aussiedler“ in den Statistiken der DDR nicht mehr als eigene Gruppe aufgeführt. Wie lebensgeschichtliche Interviews in der DDR von 1987 zeigten, waren die „Aussiedler“ zwar beruflich erfolgreich in der DDR, aber es war nicht gelungen, die Erfahrung der Vertreibung auszulöschen.

In der BRD wurden die Vertriebenen dagegen zunächst systematisch genutzt, um die Ansprüche auf die verlorenen Ostgebiete des Deutschen Reiches am Leben zu erhalten. Die sogenannten „Vertriebenenverbände“ waren in der Bundesrepublik bis in die Mitte der 1960er Jahre eine wichtige konservative Kraft, obwohl auch sie, zumindest beruflich, zu den Erfolgreichen im westdeutschen Nachkrieg gehörten. Das Festhalten an der alten Heimat verlor allerdings in der dritten Generation an Kraft. Als Viele nach 1990 erstmals in die alte Heimat reisten, geschah dies weniger aus revanchistischen Interessen, als aus Heimweh, das noch nicht vergangen war. Das macht es auch der Gesellschaft als Ganzer leichter, das Leid der Vetriebenen anzuerkennen.

 

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