Kinofest
Undine: Little Mermaid mit einem Doktortitel in Geschichte in Berlin
Es gibt zwei Möglichkeiten, sich diesen Film anzusehen, nämlich indem man die weibliche Hauptfigur als einen in der Gegenwart lebenden Wassergeist aus der europäischen Mythologie betrachtet, oder indem man sie als eine gewöhnliche Frau namens Undine (klingt wie Andina in Indonesien) sieht. Beide Möglichkeiten sind interessant, bei der zweiten aber können wir stärker mit der Hauptfigur sympathisieren, da wir sie ohne das Wissen um die Bedeutung von Undine als ein Mensch und nicht als ein Geist begreifen.
Ich habe mir den Film im Lichte der ersten Möglichkeit angesehen. Die weibliche Hauptfigur erschien mir von Beginn an als ein Geist, da ich die Beschreibung des Films bereits gelesen hatte. Undine ist ein Wassergeist, der ein Mensch werden und auf der Erde leben möchte. Ihr Traum wird wahr, wenn ein Mann sie ein Leben lang liebt. Wenn der Mann aber aufhört, sie zu lieben, muss Undine wieder zurück und im Wasser leben. Vorher allerdings muss Undine den Mann töten. Dies könnte als Drohung aufgefasst werden, um dem Mann Angst einzuflößen, oder es könnte als Racheakt gewertet werden.
Gleich zu Beginn des Films tritt Undine auf, eine promovierte Historikerin, die als Stadtführerin im Museum für Stadtentwicklung in Berlin arbeitet. Ihr Freund Johannes beendet die Liebesbeziehung mit ihr. Undine kann nicht verbergen, wie schockiert, traurig und wütend sie ist. „Du weißt, dass ich dich nun töten muss, nicht wahr?", fragt sie ihn rhetorisch. Beim Anblick von Johannes' Gesichtsausdruck musste ich lachen, denn er wirkt sichtlich geschockt und verängstigt. Er verspricht Undine, sie am selben Ort, dem Museumscafé, nach Ende ihrer Arbeitszeit wiederzutreffen.
Wenn Undine kein Geist/promovierte Historikerin ist, sondern ein Mensch/promovierte Historikerin, die ihrem Freund nach der Trennung mit Tötung droht, dann würde ich annehmen, dass sie entweder einen großartigen Sinn für Humor hat oder eine promovierte Psychopathin ist.
Johannes kehrt nicht zum Café zurück. Undine wartet, spürt wie das Wasser im Aquarium in diesem Café nach ihr ruft, sie ist verzweifelt. Plötzlich steht ein Mann vor ihr, Christoph, der behauptet, an Undines Führung im Museum teilgenommen zu haben, und sie um eine Verabredung bittet. Das Aquarium platzt, beide liegen durchnässt auf dem Boden, sie verlieben sich ineinander. Undine ist gerettet. Christoph scheint der Mann zu sein, der Undine für immer lieben wird, weil er sehr fürsorglich ist und Undine verehrt. Außerdem arbeitet er als Taucher, der Unterwassermaschinen repariert. Sie verabreden sich im schaurig-romantischen Sumpfgelände außerhalb der Stadt.
Regisseur Christian Petzold liegt es fern, eine Live-Action-Disney-Version von „Little Mermaid“ zu produzieren, die ebenfalls auf der Undine-Mythologie basiert. Undine im Film und die Mermaid Ariel haben lediglich die roten Haare gemein. Petzold wählt Berlin als Kulisse für seinen Film, denn dort, wo heute die Stadt liegt, war ursprünglich Sumpf. Undine, Expertin für die städtebauliche Entwicklung Berlins nach der deutschen Wiedervereinigung 1990, kommt aus den Tiefen dieses Sumpfes. Das Dunkle und Düstere, das sie umgibt, ist zugleich wunderschön, besonders da während des gesamten Films Bachsche Klaviertöne erklingen.
„Unter der Oberfläche und Unsichtbar“
Ich denke mir, dass dieser Wassergeist Undine – anders als Ariel, deren Meer klar und blau ist und die von ihrer Familie geliebt wird – natürlich aus ihrem Sumpf herauskommen, sich in einen Menschen verwandeln und in einer so coolen Stadt wie Berlin leben möchte. Aber leider haben die Götter bestimmt, dass ihr Schicksal von der Liebe eines Mannes abhängt.Wenn wir Undine als gewöhnliche Frau betrachten, ist es leichter, den Film als Allegorie des Lebens von Frauen im Sinne von „unter der Oberfläche“ (ihre unterlegene oder zweitrangige Position) und „unsichtbar“ (trübes Sumpfwasser) zu sehen. Beide Umgebungen tragen den Fortschritt der Moderne Deutschlands; auf der Oberfläche kann man sich das Männliche vorstellen, etwa die moderne Architektur, die Expansion der Städte, der Zusammenbruch des Kommunismus, der durch den Kapitalismus ersetzt wird.
Hier entspricht Undine dem Bild einer modernen Frau, die promoviert hat und doch um Liebe betteln und sogar Menschen töten muss. Menschlich, irrational, extrem, ja, aber wir dürfen nicht vergessen, was für eine Welt sie zur Verzweiflung bringt: Männer gelten als Retter der Frauen. Dieser Film könnte dazu gemacht worden sein, den sexistischen Mythos der Wasserfee zu zerstören, aber Petzold ist mehr daran gelegen, diesen Mythos in eine subtile und fesselnde Fantasy-/Horror-Liebesgeschichte zu verwandeln.