Mobile Bücherei
Mit der Mobilen Bücherei in entlegene Winkel Indonesiens

Perahu Pustaka; Fahrplan der mobile Bibilothek im Juli 2017
Perahu Pustaka; Fahrplan der mobile Bibilothek im Juli 2017 | © Goethe-Institut Indonesien

Eine öffentliche Bibliothek, so wie man sie in Indonesien kennt, befindet sich üblicherweise in einem Gebäude und bewegt sich nicht von der Stelle. Eine solche Bibliothek ist allerdings von eingeschränkter Reichweite, insbesondere wenn man die flächenmäßige Ausdehnung Indonesiens als Archipel von beachtlicher Größe in Betracht zieht. Hinzu kommt, dass nicht jeder in Indonesien mit Vorliebe eine unbewegliche Bibliothek aufsucht. Im Gegensatz dazu versucht die Mobile Bibliothek größeres Interesse der Öffentlichkeit zu wecken, vor allem in Regionen mit beschränkten Möglichkeiten im Hinblick auf den Personennahverkehr und die Informationsbeschaffung.

Auf dem Literaturfestival in Makassar – dem Makassar International Writers Festival (MIWF) 2017 - sprach Nirwan Ahmad Arsuka über das Thema „Buch und Aktivismus“ und über sein Engagement in Sachen Literatur und Lesekultur. In den letzten vier Jahren reiste er durch verschiedene Regionen Indonesiens, wie Sulawesi, die kleinen Sundainseln, Kalimantan, Sumatra, Molukken, Papua und Java, um dort mit den Menschen zu sprechen und sie einzuladen, sich der Bewegung der Mobilen Bibliothek anzuschließen. Die Mobile Bibliothek ist ein Zusammenschluss aus Freiwilligen, die die Bevölkerung vor Ort dazu anregt, eigenverantwortlich und eigenständig kostenfreie Bücher zu verteilen, vor allem in Regionen mit eingeschränktem Personennahverkehr und ohne öffentliche Bücherei.

Nirwan ist überzeugt davon, dass es den Kindern nicht etwa an Interesse am Lesen fehlt, vielmehr hätten die potentiellen jungen Leser nach wie vor kaum Zugang zu Büchern oder anderem Lesematerial. Selbst wenn es nicht an Lesestoff als solchem fehlt, ist dieser selten interessant für Kinder. Nirwan konnte sich selbst ein Bild von der Situation machen, als er mit seinem Pferd unterwegs war und eine Auswahl an Büchern für Kinder dabei hatte - alle waren sie begeistert.

Inzwischen macht die Mobile Bücherei in Indonesien Schule und sein inzwischen weitverzweigtes Netzwerk zeigt je nach Region unterschiedliche Ausprägungen: Es gibt Bibliotheken zu Boot, zu Pferd, im Karren, im Pferde- oder Ochsenkarren, auf dem Motorrad, in der Fahrradrikscha, im Rucksack, auf dem Fahrrad, in sogenannten Noken - und nicht zuletzt machen sich die „Bibliothekare“ zu Fuß auf den Weg und haben Bücher dabei, so wie es unter anderem bei der Bois-Bücherei im Landkreis Banggai Laut in Zentralsulawesi der Fall ist, oder bei der Bücherei, die von einem jungen Mädchen in Westpapua betrieben wird, das mit ihrer Bücherauswahl zu Fuß Berge und Flüsse überquert.

„Die Mobile Bücherei setzt sich dafür ein, die Lese- und Schreibkultur der Bevölkerung zu stärken und zwar in ihrer jeweils individuellen Ausprägung. Die Menschen werden motiviert, auf ihrer eigenen Kultur aufzubauen und sich in die Lage zu versetzen, sowohl ihre Geschichte als auch ihre Geschichten selbst niederzuschreiben und gleichzeitig ihre gegenwärtige soziale, politische und kulturelle Wirklichkeit miteinander zu gestalten,” erklärt Nirwan.
 

Die Noken-Bücherei: Wissen aus der Tasche

Agus Mandowen, 25 Jahre alt, ist Gewichtheber und gehört zu den Freiwilligen der Noken-Bücherei. Der junge Mann geht zu Fuß von Dorf zu Dorf und hat die Lesebücher in seiner Noken-Tasche dabei. Die Noken-Bücherei ist der Ableger der Mobilen Bücherei in Manokwari, Westpapua.

Pustaka Bergerak; Noken Pustaka, Papua Pustaka Bergerak; Noken Pustaka, Papua | © Noken Pustaka Ihre Bezeichnung stammt von Noken – einer Tasche, die aus Fasern von Baumrinde geknüpft und mit Blättern der wilden Pandanpalme verflochten wird. Sie findet in Papua für gewöhnlich Verwendung, um Nahrungsmittel, wie Gemüse, Süßkartoffeln oder auch Schweine zu transportieren. Noken geben in der Region nun auch der Bücherei ihren Namen und knüpfen damit an die dortige Kultur an und verleihen ihr Nachhaltigkeit.

„Noken sind ein Vehikel, mit dem sich Bücher befördern lassen, sodass sie sich verbreiten, aber auch, um mit den Menschen in Papua in Kontakt und Austausch zu treten - mit Kindern wie mit älteren Leuten. Wenn ich eine Noken-Tasche dabei habe, fühle ich mich fast selbst wie ein Papua. Es ist etwas völlig anderes, wenn ich ein Behältnis aus Plastik für die Bücher mit mir herumtrage; das Kulturelle fehlt, und am Ende werde ich noch für einen Eisverkäufer gehalten,” sagt der 29-Jährige Anand Yunanto, der von der Insel Java stammt und schon lange in Papua lebt. Anand verwendet zwar Noken, geht jedoch nicht zu Fuß, sondern fährt mit einem dreirädrigen Motorrad durch mehrere Gemeinden in Westpapua. Anand weiß zu berichten, dass es inzwischen eine ganze Flotte von Noken-Bibliotheken in sämtlichen Gemeinden in Manokwari gibt, die unterschiedliche Fortbewegungsmittel nutzen: Motorräder, Pferde oder Boote. Außerdem werden Hütten eigens zum Lesen eingerichtet. Die Noken-Bücherei zählt etwa zwanzig Freiwillige.

Anand gesteht, warum es ihm viel Freude macht, als Freiwilliger der Noken-Bücherei tätig zu sein. Sobald er in ein Dorf kommt, begrüßen ihn die Kinder lauthals mit, „Der Lehrer ist da, da kommt der Lehrer!”, auch wenn er gar kein Lehrer ist, sondern freiberuflich arbeitet. Eine andere Sache, die ihm an der Arbeit gefällt, ist der Zuspruch der Leute beim Abschied. Wenn er ein Dorf wieder verlässt, geben ihm die Bewohner Proviant mit, etwa Süßkartoffeln, Fisch oder Geld fürs Benzin.
 

Bois-Bücherei: ein Rattankorb voller Bücher

Pustaka Bergerak; Bois Pustaka, Kabupaten Banggai Laut - Sulawesi Pustaka Bergerak; Bois Pustaka, Kabupaten Banggai Laut - Sulawesi | © Erni Aladjai Im Landkreis Banggai Laut, der bergigen Inselregion in der Provinz Zentralsulawesi, befindet sich ebenfalls eine Mobile Bibliothek, sie hat den Namen Bois-Bücherei. Bois ist ein Korb aus geflochtenem Rattan, der mit einem Band aus Baumrinde versehen ist und der von den Banggai zum Transport von Nahrungsmitteln benutzt wird. Frauen tragen darin vor allem Süßkartoffeln, Gemüse, Brennholz und Früchte, während Männer darin frisch geräuchertes Kokosnussfleisch vom Feld transportieren.

Banggai Laut gehört zu jenen Landkreisen, die weder über eine Gemeindebücherei noch über einen Bücherkiosk verfügen. Die Einwohner leben in den Dörfern auf mehreren Inseln gegenüber der Hauptinsel des Landkreises. Um Lebensmittel zu kaufen, zur Bank zu gehen oder um ein Krankenhaus oder eine Behörde zu erreichen, muss man sich mit einem Holzboot auf den Weg übers Wasser machen. Einige Dörfer sind innerhalb von drei Stunden zu erreichen, andere aber liegen sechs oder sogar acht Stunden entfernt.

Mardia Abdul Karim, 56 Jahre alt, ist Bäuerin und lebt in Lipulalongo, einem Dorf im Archipel Labobo im Landkreis Banggai Laut. Auch sie engagiert sich freiwillig in der Bois-Bücherei und managt außerdem den Leseraum Bulantul. In der Sprache der Banggai bedeutet Bulantul Delfin. Mardia schultert einen mit Büchern gefüllten Bois-Korb und geht durch ihr Dorf. Hin und wieder verteilt sie die Bücher auch an der Bootsanlegestelle am Ufer oder auf den Grundstücken von anderen

Ich gehöre zu den Leuten, die keine hohe Bildung haben, ich habe nur die Grundschule besucht. In meinem Alter möchte ich mich jetzt für die Nachbarn im Dorf engagieren, indem ich Lesematerial verteile. Die Leute stellen mir den Hof oder einen Platz vor oder neben ihrem Haus oder ein dego (dt. Terassezur Verfügung – dort teile ich die Bücher aus,” erklärt Mardia.
 

Bootsbücherei: mit Büchern und Segeln im Wind

Was in Westpapua die Noken sind und in Banggai Laut die Bois, das sind in Mandar, Westsulawesi, Büchereiboote, die mit Segelkraft den Lesestoff vorbei bringen. Jedes der inzwischen drei Boote hat einen Namen: Pattingaloang[1], Membacaku, was so viel heißt wie „Lies mich“ und Colliq Pujie[2]. Das erste Boot, das im Jahr 2015 für seine Einsatz in Westsulawesi in See stach, war Pattingaloang.

Ridwan Almuddin ist einer der Betreiber eines Büchereibootes in der Region. Er ist Autor, Kunstschaffender mit Schwerpunkt Videographie und er erforscht maritime Kulturen. Laut Ridwan hat die Wahl des Bootes innerhalb der Lesebewegung in Westsulawesi vor allem auch symbolischen Charakter und dient dazu, das maritime Erbe der Vorfahren zu leben.
  • Perahu Pustaka © Ridwan Almuddin, Perahu Pustaka
    Perahu Pustaka
  • Pustaka Bergerak; Perahu Pustaka - Mandar, Sulawesi Barat © Ridwan Almuddin
    Pustaka Bergerak; Perahu Pustaka - Mandar, Sulawesi Barat

„Denkt man nur etwas länger darüber nach, stößt man bei der Wahl eines Bootes als Transportmittel auf die relativ hohen Betriebskosten. Zum Beispiel entsprechen Gelder in Höhe von 5 Mio. Rupien (umgerechnet etwa 320 Euro) den wöchentlichen Betriebskosten des Bootes. Man würde vielleicht einwenden, dass es doch dann besser wäre, den Leuten die Bücher einfach zu kaufen. Aber unser Blick richtet sich nicht nur darauf, dass die Leute Bücher haben. Für uns steht das Büchereiboot auch dafür, dass die Lesebewegung im Archipel sehr stark ist, dass der Bevölkerung auf den kleineren Inseln ebenfalls Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, dass die Freiwilligen, die in See stechen und unterschiedlichste Hintergründe haben, spüren können, wie das Leben auf einem Boot ist. Das Bootsmodell, das für die Bücherei eingesetzt wird, ist ein traditionelles Segelboot. Damit wiederbeleben wir auch die Technologie früherer Zeiten, die bis heute noch von Bedeutung ist; denn wenn wir segeln, dann praktizieren wir auch das maritime Wissen unserer Vorfahren – unser kulturelles Erbe,” erklärt Ridwan 

Mittlerweile besitzt die Bootsbücherei etwa 8000 Bücher. Es handelt sich dabei um Spendenerlöse seitens der Bevölkerung und einiger Regierungseinrichtungen Indonesiens.

 

 

[1] Karaeng Pattingaloang: Premierminister im Königreich Goa Tallo, Makassar im 17. Jahrhundert. Pattingaloang war Kenner der westlichen Wissenschaften und Naturwissenschaften, und er sprach mehrere Sprachen fließend: Latein, Griechisch, Italienisch, Deutsch, Französisch, Niederländisch, Portugiesisch und Arabisch.

[2] Colliq Pujié Arung Pancana Toa: ein Intellektueller aus buginesischem Adelsgeschlecht, der hervorragende Sprachkenntnisse besaß und ein Literaturkenner war. Er war es, der das Manuskript La Galigo niederschrieb, ein Epos, das länger ist als das Mahabharata. Colliq Pujié versammelte die Erzählungen des La Galigo für den niederländischen Wissenschaftler Dr. B.F. Mathes im Jahr 1852.