Re:publica 2023 in Berlin
Zur Affordanz der Technologie
Am Flussufer der Spree in Berlin-Kreuzberg kamen Tausende Gleichgesinnte zu Europas größter Konferenz zu digitaler Kultur und digitaler Gesellschaft „re:publica 2023“ (rp23) zusammen. Bereits die Ansprache der Präsidentin der Signal Foundation, Meredith Whittaker, am ersten Tage machte deutlich, welche Werte den größten gemeinsamen Nenner der Teilnehmenden bildeten. Whittaker nutzte die Bühne, um die weltweit stattfindenden Verletzungen der Privatsphäre und das Geschäftsmodell der Überwachung anzuprangern. Als sie verriet, dass sie nicht zuletzt auch anwesend sei, um für Signal zu werben, bemerkte sie vor einem Zustimmung äußernden Publikum: „Wahrscheinlich nutzen Sie alle schon längst Signal.“
Wie wir gab es einen großen Teil gleichgesinnter Konferenzteilnehmender mit akademischem Hintergrund, aber auch eine bunte Mischung anderer Besucher*innen, denn das diesjährige Motto lautete: Cash. Die Veranstalterwollten „dem Geld folgen“, wie sie im Programm ankündigten, und über die „Kosten von Lösungen“ für Probleme im Zusammenhang mit den Reichsten der Welt sprechen. Moderator*innen und Diskussionsteilnehmende aber interpretierten dies auf eigene Weise. Das bedeutete, Geld und Finanzsysteme waren nicht die einzigen Themen, die zur Sprache kamen. Wir konnten aus einer breiten Palette an Sessions wählen, die thematisch von wirkungsvollem Journalismus über Klimawandel bis hin zu new work reichten.
Die Konferenz war weit mehr als ein großes Angebot von Redebeiträgen. Es war ein großes Festival. Die „re:publica“ sollte den Menschen Freude bereiten. An den drei Tagen der Veranstaltung (5. bis 7. Juni 2023) wurden den Anwesenden interaktive Workshops, Retro-Spielekonsolen und sogar ein Pool geboten.
Wird zukünftig alles von Maschinen kontrolliert?
Die „re:publica 2023“ war enorm spannend für uns: Ob Vortragende, Veranstaltende oder Personen e aus dem Publikum - alle nahmen an lebhaft geführten Diskussionen teil und sprachen über ein breites Themenspektrum, das von menschlichen Ausscheidungen bis hin zur Regulierung ünstlicher Intelligenz reichte. Insbesondere die Affordanz von Technologie war ein vieldiskutiertes Thema. Hierbei ging es vor allem darum, inwiefern Design und Implementierung von Technologie für gute oder schlechte Absichten eingesetzt werden können. Dies hat nicht nur technische, sondern auch politische Implikationen.Paris Marx, der mit seiner bekannten Stimme den Podcast Tech Won’t Save Us moderiert, sprach beispielsweise darüber, dass Technologieunternehmen ihre Versprechen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme häufig nicht einhalten. Er hob den Fall Uber hervor und wie das Unternehmen ein gesellschaftliches Problem (Transport) als technisches Problem darstellt. Marx wies darauf hin, dass dieser Standpunkt der im Silicon Valley vorherrschenden Denkweise entspreche und nannte beispielhaft das Unternehmen Hyperloop, das einen unechten Futurismus mit dem Ziel verkaufen würde, öffentliche Verkehrsinfrastrukturen wie etwa das kalifornische Hochgeschwindigkeitsbahnsystem auszubremsen. Für uns war es als begeisterte Hörer seines Podcasts und nach Monaten, in denen wir nur seine Stimme gehört hatten, sehr interessant, Marx live auf der Bühne zu erleben. Den Podcast empfehlen wir wärmstens allen, die sich für eine tiefgehende und kritische Analyse der Technologiebranche interessieren!
Transportsysteme sind nur ein Beispiel für Bereiche, in denen sich die Haltung verbreitet, Technologie sei „die“ Antwort auf gesellschaftliche Probleme. Sarah Spiekerman von der Wirtschaftsuniversität Wien spricht über Aspekte einer solchen verdrehten Art des Transhumanismus, bei dem der Mensch reduziert und das Potenzial der Technologie überbewertet wird. Ein Transhumanismus, wie ihn Susan Levin, Roe/Straut-Professorin für Geisteswissenschaften und Professorin für Philosophie am Smith College Northampton, Massachusetts, USA, darlegt, hat seine Wurzeln in den angloamerikanischen Eugenik-Bewegungen. Dieser Denkweise bedienen sich einige der mächtigsten und reichsten Menschen der Welt, darunter etwa Peter Thiel, deutsch-amerikanischer Milliardär, Unternehmer und Mitbegründer von PayPal, der Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf 2016 unterstützte.
Hinter einigen Lösungsansätzen, die zunächst einfach und naheliegend erscheinen und den Anschein erwecken, Probleme zu lösen, steckt mehr, als man auf den ersten Blick sieht. Es kommt öfters vor, dass sie nur utopische Zukunftsvisionen von Tech-Milliardären bedienen und nicht die Bedarfe der breiten Öffentlichkeit.
Es gibt eine Alternative
Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sich alle, die auf der rp23 zusammenkamen, der Allgegenwart von Technologie bewusst geworden sind. Technologie spielt eine Rolle bei Fragen der Ungleichheit und bei der Nachfrage nach Zweckmäßigkeit und Ethik. Den Teilnehmenden wurde spätestens hier bewusst, dass der gegenwärtige Stand der Dinge tatsächlich problematisch ist, und wir hoffen, dass man sich in der Arena Berlin mit einigen Antworten und Alternativen nachhaltig auseinandergesetzt hat. Über die Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Themen hinaus war die „re:publica 2023“ außerdem ein Forum, um internationale Freundschaften zu knüpfen.Cory Doctorow, kanadischer Science-Fiction-Autor, Aktivist und Journalist, und die australische Professorin Rebecca Giblin von der Melbourne Law School stellten in ihrem Beitrag fest, es würde sich eine Bewegung im Kampf gegen die Macht der Unternehmen zusammenbrauen. Sie forderten Arbeitnehmer*innen, die nur vordergründig in unterschiedlichen Sektoren tätig seien, und Verbraucher*innen auf, sich ihren Gemeinsamkeiten bewusst zu werden. Um diese Allianz zu stärken, schlugen sie vor, dass „wir Ideen schaffen müssen, die auf der Straße liegen“ und in Zeiten der Krise auf den Moment warten, in dem „diese Ideen im Handumdrehen von der Peripherie ins Zentrum gelangen können“.
Mark Graham vom Oxford Internet Institute, einer Abteilung der Oxford University in Großbritannien, Esther Gathigi-Kibugi vom Sozialunternehmen Digital Opportunity Trust Kenya und Svenja Schulze, deutsche Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sprachen im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema Plattformarbeit. Plattformarbeit sei das beste Beispiel dafür, wie gesellschaftsorientierte Forschung, Regulierungsstellen und Bezugsgruppen zusammenarbeiten können. Die Panelist*innen hoben zwei sich überschneidende Problemstellungen hervor: menschenwürdige Arbeit und Geschlechterungleichheit. Esther erklärte, warum Plattformarbeit oder Geschäftsmodelle der Gig Economy in Kenia boomten. Diese würden den Menschen eine Vielzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten in Verbindung mit individuellen flexiblen Freizeitphasen bieten. Esther erklärte außerdem, dass diese Art der Arbeitsflexibilität insbesondere für Frauen großes Potenzial bergen würde. Frauen sind immer noch hauptsächlich für die Kinderbetreuung und den Haushalt verantwortlich, was es für sie deutlich schwieriger macht, sich in den traditionellen Arbeitsmarkt zu integrieren. Trotz der positiven Chancen zahlt die Gig Economy im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen relativ niedrige Löhne.
Um diese Probleme anzugehen, haben das Oxford Internet Institute und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das Projekt Fairwork entwickelt. Bei Fairwork handelt es sich laut Graham im Prinzip um ein Projekt, das durch eine Reihe von Bewertungen die besten und schlechtesten Beispiele für den Einsatz neuer Technologien am Arbeitsplatz herausstellt. Ähnlich wie sich Arbeitnehmer*innen der Plattformökonomie auf das entsprechende Bewertungssystem verlassen, bedient sich Fairwork der Bewertung dieser Plattformen.
Ziel des Projekts ist es dafür zu sorgen, dass Arbeit künftig aus besseren und gerechteren Arbeitsplätzen besteht. Hinsichtlich der Reaktionen seitens der Plattformen auf die von Fairwork vorgenommenen Bewertungen erklärte Graham, dass Fairwork eine Bewertung zunächst mit der jeweiligen Plattform diskutiert, die Bewertung offenlegt und Zeit zur Anpassung einräumt. Graham begründet diese Vorgehensweise damit, dass man so Druck auf die Plattformen ausüben könne, sich zu verbessern, da keine Plattform schlecht bewertet sein wollte. Diese Session ging uns persönlich nahe, da wir am Projekt Fairwork für Indonesien beteiligt waren. Zu sehen, wie die Früchte unserer Arbeit in etwas Wirkungsvolles für Gig-Worker umgesetzt werden, hat uns in unserer Arbeit bestätigt und gezeigt, dass sie sich positiv auf andere auswirken kann.
Es steckt mehr dahinter
Wenn wir die drei Tage in einem Wort beschreiben müssten, würden wir sagen: augenöffnend. Offen gestanden waren wir etwas voreingenommen gegenüber der „re:publica“ und dachten, sie sei einfach nur eine weitere Konferenz. Aber mit dem, was uns beim Betreten des Veranstaltungsorts erwartete, haben wir in keinster Weise gerechnet. Es war tatsächlich ein Erlebnis. Es gab so viele Angebote, die wir wahrnehmen konnten, sodass wir sogar auf einige der Podiumsdiskussionen und Sessions verzichten mussten, an denen wir ursprünglich teilnehmen wollten. Aber auf jeden Fall bereuen wir keinen einzigen Programmpunkt, den wir ausgewählt haben. Wer Lust auf tech-versierte Diskussionen, inhaltsreiche Programme und das Miteinander mit Gleichgesinnten aus aller Welt hat, der ist bei der „re:publica 2024“ genau richtig!