Voices of Memory
Historischer Hintergrund
Irische Soldaten an der Somme
| Quelle: http://www.decadeofcentenaries.com/?s=irish+at+the+somme
Für die meisten Menschen in Irland ist das Jahr 1916 synonym mit dem Osteraufstand, bei dem mehr als 450 Menschen ums Leben kamen, die Dubliner Innenstadt größtenteils verwüstet wurde und die irische Politik sich radikalisierte. Aus verschiedenen Gründen wird diese scheinbar irrationale Rebellion als Grundlage des modernen Irlands gefeiert. Militante Republikaner verehren die Rebellen als Vorbilder und Märtyrer, die Gewalt ohne demokratisch erteilte Zustimmung als politisches Instrument guthießen. Gemäßigtere Politiker streiten zwar ab, dass der Aufstand spätere terroristische Kampagnen legitimierte, verehren aber die Rebellen aufgrund des egalitären Geistes der sogenannten „Proklamation der Irischen Republik“. Die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass der Aufstand, trotz vorherigen Mangels an Unterstützung bei der Bevölkerung, tiefsitzende Ablehnung der britischen Unterdrückung, ein latentes Verlangen nach vollständiger Unabhängigkeit anstelle von teilweiser Autonomie innerhalb des Vereinigten Königreichs und romantische Vorliebe für große Gesten anstelle von halbherzigen Kompromissen aktivieren konnte. Einige vertreten die Ansicht, dass der irische Nationalismus seit Ausbruch des europäischen Krieges im August 1914 an Stärke gewonnen hatte, je mehr sich irische Todesfälle und kriegsbedingte Einsparungen häuften. Wie sonst ließe sich das rasche Umschwenken der allgemeinen Unterstützung für John Redmonds Home Rule-Bewegung auf die republikanischen Forderungen der späteren Sinn Féin nach dem Aufstand erklären? Wenn die Nationalisten im tiefsten Herzen nicht doch kompromisslose Separatisten waren, wieso waren sie dermaßen empört über sechzehn Hinrichtungen und die Inhaftierung einiger tausend politischer Dissidenten?
Aber dieses Bild vom Irland der Kriegsjahre, das wir durch den Rahmen späterer Erkenntnisse betrachten, wäre für die damaligen Zeitgenossen nicht zu erkennen gewesen. Als im Herbst 1914 Redmonds Unterstützung für die britische Kriegsanstrengung zur Spaltung der Irish Volunteers führte, lehnten nur an die 10.000 (5 %) von ihnen Redmonds Führungsanspruch ab. Abgesehen von einer bescheidenen Rekrutierung zur Irish Republican Brotherhood gab es wenige Anzeichen einer abnehmenden nationalistischen Unterstützung der „konstitutionalistischen“ Strategie. Die meisten gingen davon aus, dass Home Rule, für den September 1914 angekündigt, durch den Krieg nur ausgesetzt worden sei, danach aber mit einigen Sonderbedingungen für Ulster durchgeführt werden würde. Redmond und der Führer der irischen Unionisten, Sir Edward Carson, hatten den Krieg gegen Deutschland öffentlich unterstützt, in der Hoffnung, nach Friedensschluss dann ihre jeweiligen politischen Ansprüche stärken zu können. Sie hatten zudem ehrlich gehofft, dass sich Animositäten im eigenen Land auflösen und potentielle Rebellen (Unionisten wie Nationalisten) mit einer zukünftigen Ko-Existenz innerhalb des Empire versöhnen könnten, wenn Nationalisten und Unionisten gleichermaßen und miteinander ins Feld geschickt würden. Asquiths liberale Regierung hatte sich, auch nachdem die Unionisten unter Carson im Mai 1915 in die Koalition aufgenommen worden waren, alle Mühe gegeben, die Nationalisten nicht vor den Kopf zu stoßen, weshalb in Irland im Februar 1916 keine allgemeine Wehrpflicht eingeführt worden war.
Vor dem Aufstand schien diese Entente gut zu funktionieren. Obwohl der Zulauf zur Armee nach britischen Maßstäben nur schleppend vor sich ging, wurden in Irland damals an die 210 000 Männer rekrutiert oder mobilisiert. Von diesen fielen an die 35.000 (die oft genannte Anzahl von 49.400 schließt auch irische Militärangehörige, die in Großbritannien oder Übersee aufgewachsen waren, und Briten in irischen Regimentern mit ein). Wir stehen hier vor dem größten militärischen Aufgebot der irischen Geschichte (1916 „erhoben sich“ an die tausend Rebellen, von denen weniger als hundert ums Leben kamen). Die meisten nationalistischen Zeitungen unterstützten die „Kriegsanstrengung“, wenn auch weniger leidenschaftlich als ihre unionistischen und britischen Kollegen, und etliche katholische Nationalistinnen wie auch Protestantinnen unterstützten die „Jungs“ an der Front durch Sockenstricken, freiwilligen Einsatz in der Krankenpflege oder Zeichnen von Kriegsanleihen. Statt sich in den Bürgerkrieg zu stürzen, der 1914 in der Home Rule-Frage kurz vor dem Ausbruch zu stehen schien, wirkte das Irland der ersten Kriegsjahre überraschend vereint.
Statt in der Öffentlichkeit Entmutigung auszulösen und den Zustrom von Kriegsfreiwilligen zu drosseln, verliehen Berichte über entsetzliche Verluste der irischen Kriegspropaganda anfangs besondere moralische Kraft. Von den drei irischen Divisionen, die 1914 für die „New Armies“ ausgehoben wurden, erreichte die 10th als erste die Front, sie spielte bei den Landgängen auf Gallipoli im August 1915 eine wichtige Rolle. Ihre Erfolge und Verluste, wie die der an den ersten Landgängen auf Kap Helles im April 1915 beteiligten drei regulären irischen Bataillone, wurden sofort von Redmonds Propagandisten als Beweis für den unbezwinglichen irischen Kampfesmut mythologisiert. Doch das irische Opfer auf Gallipoli wurde niemals so zum Mittelpunkt nationalen Stolzes wie in Australien oder Neuseeland, zum Teil, weil der erste Gallipoli (oder Anzac)-Tag eben auf den Osterdienstag 1916 fiel. Aber auch spätere nationalistische Generationen hatten für die Tapferkeit der 16th (irischen) Division in Guillemont und Ginchy im September 1916 kein Lob übrig.
Ein irisches Gegenstück zum Anzac-Kult konzentrierte sich stattdessen auf den 1. Juli 1916, den ersten Tag der Schlacht an der Somme, in der die 36th (Ulster) Division bei Thiepval mit unbestreitbarer, wenn auch sinnloser Tapferkeit focht. Diese Division erlitt im Juli 1916 fast zweitausend Todesfälle, was noch knapp über den Verlusten der 10th Division auf Gallipoli lag. Die Tatsache, dass die meisten dieser Soldaten aus Carsons Ulster Voluntary Force rekrutiert waren und dass viele dem Orangeorden angehörten, machte es leicht, ihre Sache mit Wilhelm von Oraniens Triumph an der Boyne (1. Juli 1690) und dem Streben nach „bürgerlicher und religiöser Freiheit“ in Verbindung zu bringen. Für das unionistische Ulster war der heldenhafte Einsatz der Ulster Division ein überzeugender Beweis für Ulsters Ergebenheit König und Verfassung gegenüber. Die Erinnerungsfeiern für die Schlachten an der Boyne und an der Somme wurden sehr bald miteinander verbunden, und für den neuen, 1921 gegründeten Staat Nordirland waren sie ebenso wichtig wie der „Osteraufstand“ für den irischen Freistaat.
Wenn wir ein Bild vom Irland des Jahres 1916 zeichnen, müssen wir deshalb auch andere Erzählungen als die „furchtbare Schönheit“ von Yeatsens Osterrebellen einbeziehen. Für Unionisten bestätigte dieser Aufstand ein tiefverwurzeltes Misstrauen und betonte Ulsters glühenderen Patriotismus, wie er sich einige Wochen später an der Somme zeigen sollte. Für Home Ruler, die noch immer unter den irischen Katholiken die Mehrheit bildeten, war der Aufstand ein Schock mit tiefgreifenden Folgen, aber nur seichten historischen Wurzeln, bei dem wenige Dissidenten verbreitete Empfindungen geschickt ausnutzten, um den rationalen Nationalismus in Misskredit zu bringen. Obwohl die meisten Redmonditen sich irgendwann zu Sinn Féins Doktrin der „eigenen Entscheidung“ „bekehrten“, trug ihre pragmatische Sicht der Dinge 1921-22 den Sieg davon, als die meisten Republikaner einen irischen Freistaat aus sechsundzwanzig Grafschaften innerhalb des Britischen Empires akzeptierten. Diese vielen Erzählungen sind in Ereignissen und Diskussionen im Zusammenhang mit der Jahrhundertfeier wieder an die Oberfläche gekommen und zeigen, dass das Erbe von 1916 so zwiespältig und umstritten ist wie eh und je.