Brücken schlagen zwischen Zeit und Raum – Auf ein Gespräch mit der Übersetzerin Claudia Ott

Frau sitzt lächelnd mit einem offenen Buch an einem Tisch
© Blind Photographie

Ein sonniger Tag im März, Claudia Ott empfängt in ihrem niedersächsischen Hofhaus aus dem 18. Jahrhundert zu einem Gespräch über das Übersetzen aus dem Arabischen, ihren zurückliegenden Besuch im Irak und natürlich über ihre Leidenschaft, in der beides zusammenfließt: die Geschichten von 1001 Nacht.

Claudia Ott spielt vor Publikum Flöte Mahmoud Raouf © Gothe-Institut e.V.

Claudia Ott ist Musikerin und Arabistin – und sie ist eine der bekanntesten Übersetzerinnen aus dem Arabischen ins Deutsche. Ihre mehrbändige Neuübersetzung von Tausendundeine Nacht hat die Übertragung der ältesten Manuskripte zum Ziel. Der erste Band erschien 2004 im Verlag C.H.Beck, es folgten die Bände „Das glückliche Ende“ (2016) und „Das Buch der Liebe“ (2022). Zwei weitere Bände sind in Arbeit. Mit dem 2012 erschienenen Werk 101 Nacht gelang Ott zudem ein ungeahnter Wurf: die Entdeckung und Übersetzung vormals unbekannter Geschichten aus dem Kosmos von 1001 Nacht.

Claudia Ott liest aus ihrem Buch
Mahmoud Waleed © Gothe-Institut e.V.
Auf Einladung des Goethe-Instituts Irak besuchte Claudia Ott im Januar und Februar 2023 zum ersten Mal Bagdad, Mosul und Erbil. Durch ihre Übersetzungen von 1001 Nacht hat sie schon seit über 25 Jahren einen tiefen Bezug zum Irak, insbesondere zur Stadt Bagdad, aus der auch das älteste bisher bekannte Manuskript der 1001 Nacht stammt. „Es ist zwar nur ein Doppelblatt, auf dem der Titel alf layla und der Anfang einer Nacht zu erkennen sind“, erklärt Ott. „Das Blatt stammt aus einem auseindergefallenen Band, ein Notar in Bagdad hat es im Jahr 862 für seine Unterschriftsproben benutzt. Dieser Zufallsfund beweist uns, dass im 9. Jahrhundert tatsächlich bereits schriftliche Fassungen der Geschichten in Bagdad kursierten, wie es uns auch die arabischen Quellen berichten.“ 
 

Mann läuft mit Buch in der Hand Aljaffar Baqar © Gothe-Institut e.V.

Bagdad, die Stadt am Tigris, war im 9. und 10. Jahrhundert das kulturelle Zentrum der arabischen Welt. Man könne sich das so vorstellen, erzählt die Übersetzerin: Buchhändler, Buchbinder und Schreiber arbeiteten in der warraqun-der „Papiermacher“-Gasse, dem Vorläufer der heutigen Mutanabbi-Straße, wo schon seit dem 8. Jahrhundert nach chinesischem Vorbild Papier hergestellt wurde. Vor allem aber bildet Bagdad den Schauplatz vieler Geschichten aus Tausendundeine Nacht. In den Straßen der Altstadt, den Parks an den Ufern des Tigris, auf dem Fluss selbst und auf den kleinen Kanälen, die zum Kalifenpalast und sogar in ihn hinein führten, spielen Kriminalfälle, romantische Episoden, wunderschöne Liebesgeschichten. Und der Kalif Harun ar-Raschid ist laut Tausendundeine Nacht höchstselbst, als einfacher Stadtbürger verkleidet, nachts durch die Gassen von Bagdad gezogen, hat sich als Überraschungsgast in feuchtfröhliche Feiern eingeschlichen und wurde nicht selten in die komischsten Situationen verwickelt. 

„Natürlich lässt sich so etwas nicht mit der historischen Realität in Einklang bringen“, betont Ott. „Speziell die Figur des Kalifen Harun ar-Raschid ist ein fikitionaler Charakter.“ Und auch die Stadt, welche die Übersetzerin besucht, sei selbstverständlich anders, als das Bagdad aus Tausendundeine Nacht. Dennoch könne ein aufmerksamer Besucher auch heute noch zahlreiche Anklänge an die Welt von 1001 Nacht entdecken: Neben den übergroßen Statuen von Schahrasad und Schahriyar, den Protagonisten der Rahmenerzählung in 1001 Nacht, gibt es eine Darstellung des fliegenden Teppichs als Brunnen, einen 1001 Nacht-Park, kleine, nach den Geschichten benannte Pavillons auf dem Tigris sowie natürlich bauliche Elemente, die die Jahrhunderte überdauert haben. So lassen Mauerreste am Tigrisufer noch heute an den Kanal denken, auf dem eine Konkubine des Kalifen in einer Warenkiste versteckt aus dem Palast geschmuggelt wurde. Ein deutlicher Bezug zu 1001 Nacht bliebe dadurch in der Stadt spürbar. „Bagdad ist die einzige arabische Stadt, die sich so deutlich und so prominent zu dem Kulturerbe von Tausendundeiner Nacht bekennt“, so Ott.

Claudia Ott in Mosul Mahmoud Waleed © Gothe-Institut e.V.

Aber auch in den Städten Mosul und Erbil könne man noch einiges von der Atmosphäre der alten Geschichten wiederentdecken: in Mosul vor allem die dort tief verwurzelte poetische und musikalische Bildung, die ihren Widerhall in den zahllosen Gedichten in Tausendundeine Nacht findet. Erbil wiederum sei als florierende Handelsstadt mit dem beeindruckenden, weit verzweigten überdachten Markt geradezu ein Paradebeispiel für die Schauplätze der vielen Handwerker- und Händlergeschichten aus dem „Kaufmannsspiegel des Mittelalters“, als den man 1001 Nacht auch bezeichnet.

Die Hauptabsicht von 1001 Nacht, betont Ott, sei die der Unterhaltung, keinesfalls handele es sich bei den Geschichten um eine Dokumentation historischer Lebensverhältnisse. Nichtsdestotrotz erfahren wir viel über die Realitäten der damaligen Zeit. Der Fiktionsgehalt der insgesamt sehr heterogenen Geschichten sei sehr unterschiedlich zu bewerten und jede Geschichte müsse für sich selbst betrachtet werden. Während es Geschichten gibt, die unter Wasser oder in der Luft spielen, könne die darauffolgende Geschichte vom Kalifen handeln, der in Bagdad durch eine namentlich benannte Gasse läuft.
 

Claudia Ott bei Veranstaltung in Bagdad Mahmoud Raouf © Goethe-Institut e.V.

Was die Geschichten neben der Rahmenhandlung zusammenhält, seien die Eigenschaften des „adschib” und „gharib”, zu Deutsch etwa „ungewöhnlich”, oder „erstaunlich”, in Claudia Otts Neuübersetzung „spannend“ und „aufregend“. Die Spannung in den Geschichten wirkt gleich einem Cliffhanger in einer Serie, so Ott. Neben dem Faktor der Unterhaltung werde bei genauerer Betrachtung aber auch eine tiefere Ebene der Geschichten offenbar: Shahrazad, die Erzählerin in der Rahmenhandlung, wird als eine Frau dargestellt, die ganz genau weiß, was sie tut und die in einer lebensbedrohlichen Situation klug und wohlüberlegt handelt. Der eigentliche Wert der Rahmenhandlung liege im Durchbrechen der Spirale der Gewalt, was in der Erzählung nicht durch klassisch weiblich konnotierte Eigenschaften wie Verführung und Schönheit, sondern durch Wissen, Bildung und Literatur geschehe. Dadurch werde deutlich, warum 1001 Nacht zu den Schlüsselwerken der Weltgeschichte gehört: Grausame Verhältnisse werden durch Kreativität, Scharfsinn und Humor gelöst: durch den klugen Einsatz von Bildung, Kunst und natürlich Literatur werde der Sultan zum Umdenken gebracht und ändere sein Verhalten. 1001 Nacht trage deshalb bis heute eine wichtige Botschaft, nämlich wie wichtig Zuhören ist und dass Literatur, insbesondere literarisches Erzählen, einen existenziellen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat.
 

Claudia Ott bei einer Veranstaltung in Bagdad Mahmoud Raouf © Gothe-Institut e.V.

Für ihre Lesung in Bagdad in der Mutanabbi-Straße, wo sich vor allem freitags Literaturinteressierte treffen, um gemeinsam zu lesen, zu diskutieren und Ideen auszutauschen, hat Ott zwei Geschichten ausgewählt, die in Bagdad spielen, eine aus 1001 und eine aus 101 Nacht. Sie liest die Texte aus den jahrhundertealten Manuskripten vor, die sie ins Deutsche übersetzt hat, aber heute nur auf arabisch präsentiert, und die sie für das Publikum auf einer Leinwand einblendet. Denn es haben sich Fachkolleginnen und -kollegen aus Bagdad zur Lesung angekündigt und freuen sich, den Quellen in Echtzeit folgen zu können. Ein besonderer Moment für beide Seiten: Durch den unmittelbaren Austausch zwischen Erzählerin und Publikum, begleitet von Musik auf der Nay durch die Vortragende selbst, gemeinsam mit dem Udspieler Mustafa Salihi und dem Perkussionisten Hussein al-Harbi, wurde die mündliche Erzähltradition der Geschichten in ihrem Entstehungskontext als ganzheitliches Erlebnis greifbar und dadurch eine Brücke, nicht nur zwischen Deutschland und dem Irak, sondern gleichzeitig zwischen Vergangenheit und Gegenwart, geschlagen.