Maddalena Fingerle – Pudore
Die innere Stimme – Von der Scham zur Freiheit
Nach ihrem preisgekrönten Roman „Muttersprache“ („Lingua madre“) erscheint in Italien Maddalena Fingerles neuester Roman „Pudore“, der uns die Fähigkeit der jungen Autorin bestätigt, einzigartige Stimmen zu entwerfen. Sie wird dieses Jahr in Frankfurt dabei sein, wenn Italien Ehrengast auf der Buchmesse 2024 ist. Online-Redakteurin Sarah Wollberg trifft sie zu einem Gespräch für das Goethe-Institut Italien.
Von Sarah Wollberg
Muttersprache und Fremdsprache
Die Muttersprache der Autorin aus Bozen mit dem deutschen Nachnamen ist Italienisch. Ihr Großvater, denn sie nie kennengelernt hat, war deutschsprachig, aber ihre Familie ist italienisch. Sie ging in Bozen auf die italienische Schule, in der sie auch Deutsch-Unterricht hatte. „Tatsächlich“, gesteht sie uns, „habe ich Deutsch aber erst Jahre später am Goethe-Institut gelernt“. Heute würde man das kaum vermuten. Ich treffe sie online, das Interview führen wir auf deutscher Sprache. „Deutsch ist für mich die Sprache des Erwachsenwerdens“, so die Autorin. „Ich bin mit 18 Jahren nach Deutschland gekommen. Die Phase, in der man zum ersten Mal allein wohnt und Bürokratie bewältigen muss.“ Deutsch, eine bürokratische Sprache? Nein! „Deutsch ist für mich auch die Sprache der Liebe. Mein Mann ist Deutscher. Ich habe die Vorurteile, dass Deutsch eine harte Sprache ist, nicht, auch wenn es unheimlich viele Konsonanten gibt.“ Fingerle hat erst zehn Jahre in München gelebt und wohnt nun in einem kleinen Dorf im Allgäu, von wo aus sie in die Stadt pendelt. „Ich merke hier mehr, dass Deutsch für mich eine Fremdsprache ist, auch weil ich seit zwei Jahren mit meinem Kind nur Italienisch spreche, das ist für mich emotionaler.“, so Fingerle über die Veränderung. „Ich fühle mich auch zum ersten Mal als Ausländerin, seit ich hier Mutter bin und meine Sprache wieder mehr spreche. Hier spricht man auch ein anderes Deutsch. Egal wo ich bin, es gibt immer einen Dialekt, den ich nicht verstehe.“Einsamkeit und Selbstgespräche
Wir lernen die Protagonistin von Pudore, Gaia, in einer Art innerem Monolog kennen, einem Selbstgespräch. Sie stammt aus einer reichen italienischen Familie, die in München ansässig ist. Ihre Stimme ist sehr eindringlich und geht auch mir nicht mehr aus dem Kopf. Noch Tage nach dem Lesen des Romans, musste ich an sie denken, als wäre sie Teil meines Lebens. In meinen Gedanken frage ich mich: „Was macht Gaia wohl gerade? Was denkt sie? Wo läuft sie her? Wie sieht sie heute aus?“ Die Autorin freut sich über diesen Effekt: „Das ist das Schönste, was man mir sagen kann. Es ist genau das, was ich erreichen möchte. Ich möchte, dass wir das Gefühl haben, wir seien in diesem Kopf. Wir selbst sind diese Gedanken.“Figurenfindung und Ausgangspunkte
Wo fand Fingerle die Inspiration für eine Romanfigur wie Gaia? Sie sei in München auf einer Ausstellung des Fotografen Erwin Olaf mit dem Titel Unheimlich schön gewesen, erzählt sie. Wer die Arbeiten des 2023 verstorbenen niederländischen Fotokünstlers und Modefotografen kennt, wird sich nicht wundern: Maddalena Fingerle ist fasziniert von der Schönheit des Fotos einer Frau im gelben Kleid. Ihr erster Gedanke ist: „Ich liebe diese Frau, ich will über sie schreiben!“. Dann sieht sie ein weiteres Foto, von einem Mädchen mit einem sturen Blick. In ihrer Empfindung sind die beiden Fotos seelenverwandt. Für die Autorin sind die Frauen fast die gleiche Person, auch wenn es sich um zwei ganz unterschiedliche Menschen handelt. In ihrem Kopf nimmt die Geschichte ihren Lauf: Die junge Frau soll sich in die andere verwandeln…Beziehungen und Spiegelbilder
In Pudore treffen wir auf zwei große Themen: Schönheit und Einsamkeit. „Gaia möchte so sein, wie sie ist, aber ihre Eltern akzeptieren sie nicht.“ Ihre Homosexualität hält sie lange versteckt, bis sie sich in Veronica verliebt, die Frau aus Süditalien, von der sie verlassen wird. Von dem Moment an möchte sie wie Veronica oder gar Veronica selbst sein, die ganz anders ist als sie. Gaias zwischenmenschliche Beziehungen sind entweder bezahlt, wie im Fall der Kinderfrau Filomena und des Psychologen Emilio, oder eine reine Projektionsfläche. Sogar bei der großen Liebe ihres Lebens geht es die ganze Zeit nur um sie selbst. „Sie ist immer nur in einer Beziehung mit sich selbst, es ist immer alles nur auf sie bezogen, es geht nie aus ihr oder über sie hinaus.“, so Fingerle.Der Weg in die Freiheit
Im Verlauf des Romans muss sie lernen loszulassen, ihre Familie und ihre Ex-Freundin. „Freiheit ist, sich selbst sein zu können und zu dürfen.“, so die Autorin. Die Familie gibt ihr nicht die Chance, frei zu sein. Die einzige Möglichkeit ist, sich von ihr zu lösen. Das gilt auch für Veronica.„Wenn sie loslässt, wenn sie keine Scham mehr verspürt, in dem Moment wird sie frei.“, erklärt die Autorin. Das bedarf einer Art Trauerarbeit und vielleicht schafft sie es. „Mi sento leggera e spudorata, c’è sole dappertutto e nessuna preoccupazione.” Das ist der letzte Satz. Nicht als Spoiler, sondern als Wegweiser: Das Buch als ein Weg aus der Scham. Von Pudore keine Spur mehr.