Yui Tanizaki an Lilian Peter
Kyoto, 30. Juli 2020

Yui Tanizaki an Lilian Peter


Guten Abend liebe Lilian,
 
herzlichen Dank für Deinen eindrucksvollen Brief. Ich habe ihn mehrmals gelesen, um ganz in die Landschafts- und Wortreihen einzutauchen. - Das sich verändernde Licht in der Abenddämmerung, die vom Fenster aus betrachteten Bäume und das Leben der Menschen. Und nicht zuletzt die nur einem selbst gehörende Zeit, in der man von niemandem gestört in sein Inneres hinabsteigen kann. – Mit dem wiederholten Lesen empfand ich alles umso frischer und intensiver.

Um zu mir zu kommen: Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Es ist halb elf. Neben mir steht der Baby-Monitor, auf dem ich mit einem Seitenblick den Schlaf meiner Tochter überwache. Diese Woche war sehr anstrengend. Sie fing plötzlich an, nachts zu weinen. Bisher hatte ich sie um acht Uhr abends ins Bettchen gelegt und dann schlief sie ohne einmal aufzuwachen bis zum Morgen, sodass ich nachts arbeiten konnte. Doch jetzt verlangt sie sowohl tagsüber als auch in der Nacht fast ununterbrochen meine Aufmerksamkeit. Sie kann sich neuerdings umdrehen, das heißt zwischen Bauch- und Rückenlage wechseln, und ehe man es sich versieht, ist sie von einem Zimmerende zum anderen gerollt. Ihre Augen strahlen, wenn sie nach dem Tischbein oder dem Vorhangsaum greift, und sie will nicht mehr loslassen. Erst seit Kurzem auf der Welt ist es für sie das erste Mal, dass sie ein Tischbein oder einen Vorhangsaum berührt. Will ich sie davon abbringen, weil die Dinge nicht sauber sind, weint sie laut und ist zornig. Wenn möglich, würde ich die Welt gerne mit den Augen dieses Kindes sehen.

Das Wachstum eines Babys erinnert in seiner Geschwindigkeit an das von Pflanzen. In den ersten drei Monaten verdoppelt sich sein Körpergewicht im Vergleich zur Zeit der Geburt. Inzwischen ist das körperliche Wachstum meines Kindes nicht mehr so extrem, dafür entwickeln sich nun die geistigen und motorischen Fähigkeiten erstaunlich schnell. Jeder Tag bringt für ein Baby etwas Neues, woran es sich nachts im Schlaf erinnert und deshalb anscheinend weint. Übrigens wachsen auch auf meinem Balkon Pflanzen. Ich habe sie während der Ausgangsbeschränkungen in diesem Frühling gesetzt: Berghortensien, Klematis, Lavendel und viele, deren Namen ich nicht mehr weiß. Vom Fenster meiner Wohnung aus sieht man kein Grün (ich beneide Dich um Deinen Ausblick), was ich stets vermisste, weshalb ich viele Blumentöpfe mit Pflanzen gefüllt habe. Im Mai boten sie ein schönes Bild, doch nun sind sie zu sehr gewachsen und wuchern wild vor sich hin. Besonders die Stockmalven schossen schnell in die Höhe und haben inzwischen eine Größe von drei Metern erreicht, sodass ich nicht einmal die verwelkten Blüten abzupfen kann. Blumen, die in stolzer Höhe blühen, können von niemandem gebührend bewundert werden.

In der Zeit, als das Corona-Virus sich ausbreitete und eine Stadt nach der andern auf dem Globus abgeriegelt wurde, hatte ich das Haus so gut wie nie verlassen. Vor dem Entbindungstermin bestand die große Gefahr einer Frühgeburt, sodass ich lange sogar das Krankenhauszimmer nur selten verlassen konnte. Doch es hatte mir nichts ausgemacht, das Zimmer zu hüten. In letzter Zeit allerdings unternehme ich mit dem Baby in einer Babytrage nachmittags, wenn die größte Hitze nachgelassen hat Spaziergänge (die Sommer in Kyoto sind schrecklich heiß), da es an allerlei Dingen großes Interesse zeigt. Ich würde eigentlich auch gerne bis zum Fluss Kamogawa gehen, den Du in Deinem Brief erwähnt hast. Vor der Schwangerschaft bin ich dort dreimal pro Woche joggen gegangen. Über den Kamogawa schreibe ich Dir später in einem anderen Brief.

 
Letzte Nacht habe ich bis hierher geschrieben und ging dann zu Bett. Auch jetzt ist die Zeit wieder fortgeschritten und ich schreibe weiter. Während ich dem Baby tagsüber die Brust gab, kamen mir Zweifel im Hinblick auf den Stil dieses Briefes. (Meine Tochter lässt sich sehr viel Zeit beim Trinken. Beziehungsweise nuckelt sie immer weiter und versucht so einzuschlafen.) Lilian, Dein Brief, in dem die Sprache über der Ebene des Instruments der Mitteilung ein eigenständiges Dasein führt, ist in der Sprache der Literatur geschrieben. Wie Du schon in den Mails zu diesem Briefwechsel gesagt hast: Wir schreiben Briefe und doch keine Briefe oder mehr als Briefe. - Derartige Briefe erhält man nicht jeden Tag, es ist eine äußerst wunderbare und freudige Begebenheit. Auch ich wollte einen Brief in dieser Form schreiben, aber es scheint mir nicht geglückt zu sein. Womöglich liegt es daran, dass ich auch als Übersetzerin arbeite (Du ja ebenfalls), denn mir geht beim Schreiben auch durch den Kopf, wie dieser Brief wohl übersetzt werden wird. Und weil ich mir dessen bewusst bin, schreibe ich vielleicht in einer Form, als liege für diesen Text bereits eine Übersetzung vor. Aber dieses Mal schreibe ich einfach so weiter.

Also zurück zu den Spaziergängen. Beim Spazierengehen besitzen die mir eigentlich bekannten Landschaften der näheren Umgebung eine seltsame Distanz, als würde ich sie nach einer langen Reise oder wie durch eine Glasscheibe betrachten. Womöglich erscheint es mir so, weil ich mit dem Kind während des Gehens immer spreche und damit die Umgebung mit seinen Augen sehe. Und mein Blick ruht auf den Blumentöpfen an den Hauseingängen. Was haben die Leute gepflanzt, wie pflegen sie die Blumen? Ganz deutlich spüre ich jedes Mal, dass die Leute viel Sorgfalt walten lassen. Jede Blume ist richtig eingepflanzt und hat an der angemessenen Stelle Blüten angesetzt. Hier gibt es keinen kleinen Urwald wie auf meinem Balkon. Warum sind meine Blumentöpfe anders? Sollte ich die Pflanzen noch mehr zurückschneiden …? Bei mir sieht es eben so aus, Lilian, und so schenken mir die bis in Dein Zimmer eingedrungenen Tomaten ein Gefühl der Erleichterung und der Sympathie.

Muss ich Ordnung schaffen, indem ich sie zurechtschneide oder soll ich sie sich selbst überlassen? Hierbei gibt es eine Verbindung zu dem, was Du über das Verhältnis von Erinnerung und Sprache geschrieben hast. Meine Schreibtätigkeit beschränkt sich zurzeit allein auf mein Tagebuch. Die Texte werden von niemandem gelesen und von niemandem betrachtet, sondern ich betrachte mich darin nur selbst. Bisher habe ich mich dem Schreiben von Romanen gewidmet, darin fiktionale Welten geschaffen und in eine Erzählform gegossen, doch in dem mit dem Krankenhausaufenthalt während der Schwangerschaft, der Entbindung, dem Aufziehen des Kindes begonnenen Nicht-Alltag fällt mir die Roman-Arbeit schwer. Mein Schreiben ähnelt jetzt wohl dem Sammeln von Fragmenten meines Ichs.
 

Ich winke Dir zu, die Du an einem grünen Fenster sitzt, schicke Dir diesen Brief und freue mich schon auf Deine Antwort.
 

Deine Yui

   
 

Deutsche Übersetzung: Isolde Kiefer-Ikeda