Yui Tanizaki an Lilian Peter
Kyoto, 13. Oktober 2020



Liebe Lilian,
 
bitte entschuldige, dass zwischen Deinem Brief und meiner Antwort so viel Zeit vergangen ist. Unser schriftlicher Austausch, der mehrere Phasen durchläuft und über den jeweils folgenden Brief weiteratmet, erfolgt über die Zeit, in welcher der Brief tatsächlich geschrieben wird, die Zeit, in der die Übersetzung entsteht und die Zeit, die verstreicht, während der übersetzte Text (so wie Du geschrieben hast) den Mantel der Übertragung ablegt und es sich so lange auf dem Sofa bequem macht, bis seine Empfindungen ausreichend übermittelt werden können. Ich glaube, dass dies zweifellos die physikalische Distanz zwischen Berlin und Kyoto getreu nachbildet. Trotz alledem konnte ich die Abmachung, den Brief innerhalb von drei Wochen nach Erhalt zu beantworten, nicht einhalten. Seit Deinem zweiten Brief vom 19. August sind sage und schreibe zwei Monate verstrichen und seit meiner Antwort auf Deinen ersten Brief zweieinhalb. Die extreme Sommerhitze liegt hinter mir und die angenehme Zeit des Herbstes hat begonnen. Diesen Brief schreibe ich auf der Terrasse eines Cafés.
 
Du hast erwähnt, dass es in Deutschland dieses Jahr auch heiß war und es seit drei Jahren im Sommer nicht genug geregnet hat. Ich habe von einer These gehört, welche die Ausbreitung des Corona Virus mit der Erderwärmung in Zusammenhang bringt, und wir müssen über die Erderwärmung wohl noch ernsthafter nachdenken. Man kann nicht gerade sagen, das Bewusstsein für derartige Probleme sei in Japan ausgeprägt. Zurück aber zu Dir, Deinem Fenster und der darüber schwebenden kleinen, nur zwei Meter breiten Regenwolke, die sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt hat. Diesen humoristischen Ton Deiner Texte mag ich sehr.
Die Sommerhitze wütete dieses Jahr sogar für japanische Verhältnisse ungewöhnlich heftig. Viele Menschen dachten entsetzt daran, dass ohne Corona in dieser Gluthitze die olympischen Spiele stattgefunden hätten. Indem man nun aber seine Tage im milden, herbstlichen Klima verbringt, rückt die Hitze schon wieder in weite Ferne und damit auch die verschiedenen Ereignisse im Verlauf des Sommers. Es ist tatsächlich viel geschehen - weniger bei mir, als bei meiner Tochter.
 
Es gibt in Japan die Redewendung: „Nach zehn Jahren - eine andere Welt“. Zieht man ein Baby auf, wird man durch die tagtäglichen Veränderungen und das Wachstum verführt, schon einen Monat so zu sehen. Zum Zeitpunkt meines letzten Briefes hatte sich meine Tochter durch Rollen und Drehen fortbewegt, kurz darauf krabbelte sie, inzwischen ist sie ziemlich gewachsen und nutzt jede Gelegenheit sich an Erwachsenen hochzuziehen. Zusätzlich zu meinen täglichen Aufgaben wie Windeln wechseln, Stillen, Füttern und sie zu einem geregelten Schlafrhythmus zu bringen, diene ich meinem Kind nun auch noch als Klettergerüst. Sie verfolgt mich unentwegt und weint laut, sobald ich aus ihrem Blickfeld verschwinde. Sogar der Weg zur Toilette gestaltet sich schwierig. Fast scheint es, meine Tochter habe mir Fesseln angelegt. (Aus diesem Grund ist es schwierig, andere Arbeiten weiterzuführen, wodurch sich das Schreiben dieses Briefes sehr verspätet hat. Entschuldige vielmals!) Vom Standpunkt meiner Tochter aus ist es selbstverständlich, unruhig und ängstlich zu werden, da sie ohne den Menschen, der sich um sie kümmert, nicht leben kann. Komme ich zurück, lächelt sich gleich wieder und vergisst ihre Tränen offensichtlich im gleichen Moment.
 
Ich habe mir Deine Frage durch den Kopf gehen lassen, warum das Baby sich gerade nachts an neue Ereignisse des Tages erinnert und weint. Jene These, die sich auf das nächtliche Weinen von Babys bezieht, hatte ich aus dem Internet, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie zutreffend ist. Für mich hat es den Anschein, dass die Kreatur Baby Ereignisse und Erfahrungen, die es tagsüber macht, im Nu vergisst und sich gleich der nächsten Aktivität zuwendet. Ausgenommen davon sind extrem unangenehme Erfahrungen, wie zum Beispiel Schutzimpfungen. Womöglich setzt der Erinnerungsmechanismus bei Babys nur im Schlaf ein.
In Deinem letzten Brief hast Du geschrieben, dass das Weinen womöglich „ein Schreck darüber ist, dass es so etwas Merkwürdiges gibt wie Erinnerung“. Auch Dein erster Brief legte Deine Gedanken zu Erinnerung und Sprache beziehungsweise Worten dar. Und tatsächlich ist die Erinnerung etwas Merkwürdiges. Bisher hatte ich mir kaum Gedanken darüber gemacht, warum wir mit so einem Mechanismus ausgestattet sind. Neugeborene Babys scheinen noch über so gut wie keine Gedächtnisfunktionen zu verfügen. Die Geburt meiner Tochter war im Januar dieses Jahres, und die ersten drei Monate bis zum Frühlingsanfang hatte ich das Gefühl keinen Menschen, sondern eine andere Art Lebewesen aufzuziehen. Obwohl seither nur ein paar Monate vergangen sind, verfügt sie nun über ein Gedächtnis, unterscheidet zwischen ihr bekannten und unbekannten Erwachsenen und fremdelt sogar. Gehen wir zum ersten Mal an einen Ort, hebt sie den Kopf, öffnet groß die Augen und zeigt einen Gesichtsausdruck, in dem sich Überraschung, Freude über die erste Begegnung mit unbekannten Dingen, gemischt mit ein wenig Angst widerspiegelt, und dann krabbelt sie langsam los. Gegenüber Unbekanntem oder Neuem zeigt sie zwar eine gewisse Scheu, doch da sie auch über eine unbändige Neugier verfügt, kann sie sich manchmal nicht zurückhalten und fängt an, damit zu spielen. Am Tag zeigt ein Baby an einer Sache nach der andern Interesse, ist vielbeschäftigt und kann keinen Moment stillhalten. Die dabei gewonnenen Informationen werden dann vielleicht im Traum verarbeitet.
 
Während ich dies niederschreibe, geht mir die Frage durch den Kopf, um was es sich bei der Begegnung von Gedächtnisinhalten, das heißt von Erinnerung wohl handelt. Sicher ist es bei Erwachsenen und Säuglingen anders, aber meiner Empfindung nach kommt es zu Erfahrungsunterschieden in der Erinnerung je nachdem, ob ich mich tagsüber im Wachzustand, im Schlaf oder in Gedanken verloren an etwas erinnere. Geschieht es fast unbewusst, ist die Erinnerung wie eine erste Erfahrung, die plötzlich über einen hereinfällt. Hatte man zum damaligen Zeitpunkt gedacht, dass man diese Sache niemals vergessen würde, geriet sie doch wider Erwarten in Vergessenheit, und dieses in Vergessenheit geraten sein, überrascht uns. Dieser Sachverhalt und das Verhältnis zur Sprache beziehungsweise zu den Worten: Das Gedächtnis befindet sich normalerweise hinter Glas und wuchert ungeordnet so wie die Pflanzen auf meinem Balkon und die Tomaten auf Deinem, gute und schlechte zusammen. Auch in der Zeit, in der wir es nicht sehen (oder wenn ich Deinen ersten Brief zitiere: „Wenn sie nicht direkt unter Beobachtung stehen...“), strecken sie womöglich ihre Zweige und Blätter aus, wachsen und sind in einer unbeschränkten Weise miteinander verbunden. Ich liebe Ordnung und mag es nicht, wenn Dinge herumliegen, weshalb ich auch jeden Tag putze. (Seit meine Tochter sich fortbewegt und überallhin will, reinige ich auch die letzten Ecken.) Stelle ich mir aber den ungeordneten Garten der Erinnerungen vor, breitet sich in mir seltsamerweise doch Ruhe aus. Vermutlich haben auch sie ihre ganz eigene Ordnung.
Auch von den nicht richtig befruchteten Tomaten hast Du berichtet, wobei auf meinem Balkon die Trichterwinden keine Blüten ansetzten. Es sind keine einheimischen Pflanzen, sondern kommen aus südlicheren Regionen, dabei sind sie sehr widerstandsfähig und robust, brauchen aber viel Erde. Ich hatte sie wahrscheinlich in einen zu schmalen Topf gesetzt, wodurch die Wurzeln keine Nährstoffe mehr aufnehmen konnten. Wir beide können auf genügend Erfahrungen zurückblicken, in denen wir weder Blumen erblühen noch Früchte wachsen lassen konnten. Diese gedeihen nun wohl ebenfalls in unserem Gedächtnis. Wir können sie nicht beschneiden oder beseitigen, was sicher auch nicht nötig ist. Das Schreiben, etwas in Worte zu fassen, entspricht nicht einer reinen Kopie von Dingen, sondern steht doch eher für eine Art von Sublimation.
 
Meine Tochter wird sich von jetzt an Worte einprägen und nach und nach anfangen zu sprechen. Auf welche Weise sich Menschen eine Sprache aneignen, hat mich schon immer interessiert, weshalb ich dieser Entwicklungsphase besonderes Augenmerk schenken möchte. Diese Phase und unser japanisch-deutscher Austausch sowie die eingeschobenen Übersetzungen sind meiner Meinung nach miteinander verbunden. Bei Unterhaltungen in einer anderen Sprache, die man ja nicht wie die eigene Muttersprache beherrscht, fühlt man sich wieder ins Kindesalter zurückversetzt. Die Episode über das missverstandene Irasshaimase – いらっしゃいませ – war sehr lustig und hat mich irgendwie in einen glücklichen Zustand versetzt. Wenn ich mich im Ausland aufhalte, passieren mir ständig Missgeschicke, aber irgendwie habe ich auch Spaß daran.
 
Ja, vor diesem Briefwechsel haben wir uns auf Englisch geschrieben. Der digitale Weg war natürlich schnell, doch ein Austausch, der viel Zeit und Mühe kostet, schenkt uns Dinge, mit denen wir bisher nicht in Berührung kommen konnten. Nichtsdestotrotz werde ich Dir von nun an schneller antworten!
 
Ich habe Dir noch nicht auf alle Fragen geantwortet, und es gibt noch so viel zu schreiben. Trotzdem möchte ich den Brief hier abschließen. Da beklage ich mich, dass ich nicht zum Schreiben komme und finde dann kein Ende - eine schlechte Angewohnheit, nicht wahr!
Der goldene Herbst erstrahlt sicher vor Deinen Fenstern in Berlin. Beim Wechsel der Jahreszeiten ist man für Erkältungen anfällig. Bitte achte auf Dich! Ich freue mich schon von ganzem Herzen auf Deine Antwort.
 
Deine Yui

   
 

Deutsche Übersetzung: Isolde Kiefer-Ikeda