Yui Tanizaki an Lilian Peter
Kyoto, 10. Februar 2021
Liebe Lilian,
auch dieses Mal erhältst Du meine Antwort auf Deinen Brief mit reichlicher Verspätung. In Deinem letzten Brief hast Du geschrieben, ich bräuchte mich dafür nicht zu entschuldigen, aber ich möchte Dich doch wissen lassen, dass es mir leid tut. Als die Übersetzung Deines Briefes bei mir eintraf, begannen am Goethe-Institut gerade die Winterferien und ich nahm mir vor, Dir gleich nach den Ferien zu antworten. Doch dann ging es bei mir zu Hause drunter und drüber, sodass ich wieder in Verzug geriet. Wenn ich es mir genau überlege, wurde mir schon als ganz kleines Kind gesagt, ich sei zu langsam. Sogar die Erzieherin der Kindertagesstätte, die ich besuchte, hatte geschrieben, es wäre schön, wenn ich meine Aktivitäten noch schneller durchführen könnte. Soweit ich mich erinnere, stand es auf einer Geburtstagskarte, die die Kita für mich gemacht hatte. Ob mir meine Erinnerung einen Streich spielt? Auf einer Geburtstagskarte hat so etwas ja nun wirklich nichts verloren.
Meine Tochter ist inzwischen ein Jahr alt geworden und geht nun auch in die Kita. Damit ist das "Hausarrest" durch das Baby vorbei, und doch verlasse ich die Wohnung nur für die Wege zur Kita und den Einkauf des Allernötigsten. Auch in Kyoto wurde vor zirka einem Monat der Notstand ausgerufen. Ich arbeite wie Du eigentlich meistens in Cafés, zu Hause geht mir das Schreiben nicht gut von der Hand. Wenn ich mich zu Hause aufhalte, scheint mich die unaufhörlich aus allen Ecken sprudelnde Hausarbeit zu erdrücken. Das Haus, in dem wir wohnen, ist schon alt und ständig gibt es irgendwo Probleme. Diese Woche musste ich in aller Eile den Wandschrank aufräumen. Damit meine Tochter keinen Husten bekommt, stelle ich, solange sie schläft, immer einen Luftbefeuchter an. Dadurch hatte sich aber der Wandschrank innen beschlagen, und es war zu einer kleineren Überschwemmung gekommen. Außerdem hat mein Mann zurzeit ständig Überstunden und kommt sehr spät nach Hause. Und gerade jetzt bin ich nicht ganz fit, da ich mir einen Magen-Darm-Infekt zugezogen habe (er geht gerade in der Kita um) und muss mich nichtsdestotrotz nach der Kita um das Kind kümmern und auch sonst alles alleine machen.
Oh je, jetzt habe ich ein paar graue Wolken heraufbeschworen. Während der Zeit, in der ich nicht zum Briefeschreiben kam, habe ich immer wieder an Dich in Berlin gedacht. Wie Du in der Stadt, über die ein Lockdown verhängt wurde, durch die Straßen läufst (ich kann schon lange nicht mehr zum Joggen gehen), an Deine Kunstfertigkeit im Klavierspiel und in der Malerei (als ich vor ein paar Tagen aufräumte, entdeckte ich den Flyer für das in Kyoto stattgefundene Gespräch zwischen uns und bemerkte, dass Du das Bild auf der Rückseite gemalt hattest - ein wunderschönes Bild), und besonders habe ich an Deine Zeilen zu den Göttern Izanagi und Izanami gedacht. Der Gedanke, das Umkreisen des Himmelspfeilers von beiden mit dem Uhrzeigersinn in Verbindung zu bringen, war mir neu und ich fand ihn äußerst interessant und faszinierend.
So wie Du geschrieben hast, mussten Izanagi und Izanami das Umkreisen des Himmelspfeilers zu ihrer Begegnung wiederholen, da Izanami beim ersten Mal zuerst die Stimme erhoben hatte, wodurch der Schöpfungsprozess misslang. Warum durfte die Frau nicht zuerst sprechen? Es gibt die These, dass hier der Einfluss des chinesischen Konfuzianismus eine Rolle spielt. Vor kurzem habe ich The Testaments von Margaret Atwood gelesen. Es ist ein dystopischer Roman über einen männerdominierten Staat, der die Fahne des christlichen Fundamentalismus schwenkt. Ob Jesus oder Buddha, wohin man auch auf dieser Welt blickt, stehen heute bei den meisten führenden Religionen die Männer im Mittelpunkt. Wahrscheinlich müssen solche Religionen bis über ihre Anfänge hinaus zurückverfolgt werden, wenn man die bis zum heutigen Tag anhaltende Ungleichheit zwischen Männern und Frauen neu überdenken möchte.
Bei der Zeugung von Himmel und Erde gebiert Izanami zuletzt den Feuergott, wobei sie sich starke Verbrennungen an der Scheide zuzieht und daran stirbt. Izanagi sucht das Totenreich auf, um seine geliebte Frau von dort zurückzuholen. Dabei handelt er dem Verbot zuwider, Izanami anzuschauen, wodurch sie für immer im Reich der Toten weilen muss. Eine ähnliche Erzählung gibt es ja auch in der griechischen Mythologie, die Sage von Orpheus und Eurydike. Der Mann steigt in den Hades, um seine verstorbene Frau zurückzuholen, verstößt aber gegen das Verbot, sich nach ihr umzudrehen. Durch seinen Blick nach hinten, sinkt Eurydike wieder ins Totenreich hinab. Izanami hingegen verfolgt wutentbrannt ihren Mann, und versucht ihn zu töten. Letztendlich wird sie nun von Izanagi ins Totenreich eingeschlossen.
In den alten japanischen Göttersagen bezeichnet man das Totenreich (Meifu oder Yomi-no-kuni) auch als Land des Ursprungs (Ne-no-kuni) oder Land der Mütter (Haha-no-kuni), wobei das Letztere wohl in Verbindung zum Aufenthaltsort der toten Izanami steht. Dies alles erinnert mich an die Mütter, die in Goethes Faust II Erwähnung finden. In Goethes Faust ist es gerade dieser Abschnitt, der bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat und der ab und zu meine Gedanken streift. Faust begibt sich in die Unterwelt, um Helena zu finden und stößt dort auf die Mütter. Was hier mit Mutter bezeichnet wird, steht nicht für die tatsächliche Mutter, sondern für so etwas wie Muttergöttinnen des Alls oder Urgöttinnen. Und die Augen dieser Mütter nehmen nur Schemen wahr.
Die Beschreibungen der Mütter vom Faust lassen in mir Erinnerungen auftauchen an meine den ganzen Tag mit dem Haushalt beschäftigte und in ihren Mußestunden in der Küche sitzende Urgroßmutter, Großmutter oder an meine Mutter. Als ich in meinem zweiten Brief übers Gärtnern geschrieben habe, wollte ich eigentlich auch vom Garten meiner Mutter erzählen. Meine Mutter pflanzte alles Mögliche und überließ das, was von selbst wuchs, der Natur, sodass der Garten mehr und mehr verwilderte. Die Mütter im Faust verkörpern zwar eine Art Göttinnen, aber indem sie Mütter genannt werden, können sie vom Bild der tatsächlichen Mütter nicht getrennt werden.
Es stellt sich dabei jedoch die Frage, warum es, ob bei der Erzählung von Izanami oder Goethes Müttern, immer die Mütter sind, die sich im Schattenreich befinden. Izanami hatte die gewaltige Arbeit der Schöpfung des Landes vollendet. Warum musste sie ins Totenreich eingesperrt werden? Wer auch der Autor des Kojiki war, warum hat er der Erzählung so einen Verlauf gegeben?
Vermutlich weil Geburt und Tod miteinander verflochten sind. Man will sich in einem gewissen Sinne nicht überlegen, woher das Leben kommt, womöglich da dies ein furchterregendes Geheimnis darstellt. Warum? Weil es untrennbar mit der Welt vor dem Leben verbunden ist (Als Faust das Wort Mütter hört, sagt er: "Trifft's mich immer wie ein Schlag! Was ist das Wort, das ich nicht hören mag?") Liebe Lilian, Du hast mir die Redewendung "Die Zeit arbeitet dagegen" geschrieben, und sicher gibt es in der Welt vor dem Leben auch keine geradlinig fortschreitende Zeit.
Beim erneuten Durchlesen meiner Zeilen ist mir aufgefallen, dass ich am Anfang von "dieser Woche" geschrieben habe, was inzwischen aber schon zu "letzter Woche" geworden ist. Somit macht dieser Brief einen Spagat über eine Woche hinaus. Meine Tochter hatte sich erkältet, und so war diese Woche mit Krankenpflege und Arztbesuchen vergangen. Ein Kind aufzuziehen bedeutet, nicht mehr arbeiten zu können, und die gesellschaftlichen Verbindungen, die man vorher hatte, dünnen aus. Natürlich hat das Aufziehen eines Kindes auch seine schönen Seiten, aber wenn ich nur noch Hausarbeiten erledige, habe ich das Gefühl, zu einer jener Mütter zu werden. Aber auf einen Aufenthalt im Totenreich verzichte ich gern!
Das Schreiben dieses Briefes hat mehr Zeit in Anspruch genommen als die vorausgegangenen. Vielleicht liegt es daran, dass ich einiges nachgeschlagen und nachgelesen habe. Und so wie Du geschrieben hast, werden Dinge sichtbar, wenn man sie in Ruhe angeht. Trotzdem, ich bin allzu spät dran und hoffe nur, dass Du inzwischen nicht des Wartens müde bist ...
Hier ist es zwar noch kalt, aber es gibt immer mehr warme Tage. Der Frühling ist noch in weiter Ferne und doch spürt man, dass er näher rückt. Wie ist es wohl in Berlin?
In Vorfreude auf Deinen Brief
Deine Yui