Many Worlds Over
Ich heiße Ayoung Kim und bin zeitgenössische Künstlerin und Medienkünstlerin. Hauptsächlich erschaffe ich mithilfe verschiedener Medien fiktive Welten.
Könnten Sie für alle, die Ihren Werkzyklus „Delivery Dancer“ noch nicht kennen, die Welt dieser Werke einmal erklären?
„Delivery Dancer‘s Arc: Inverse“, welches im ACC gezeigt wurde, und „Delivery Dancer‘s Arc: 0° Receiver”, welches im Auftrag des Australian Centre for the Moving Image (ACMI) angefertigt wurde, sind die neuesten Werke in meinem 2022 begonnenen Zyklus „Delivery Dancer“. Das erste Werk des Zyklus, „Delivery Dancer’s Sphere“, ist eine Einkanal-Videoinstallation und erzählt die Geschichte von Ernst Mo, einer der besten Fahrerinnen für die Liefer-App „Delivery Dancer“ in einem fiktiven Seoul. Dieses Werk entstand aus Fragestellungen, die ich entwickelte, als ich während der Pandemie in meinem Studio eingeschlossen war und täglich Essen über Lieferapps bestellte.
Ich dachte: „Die Fahrer rasen durch eine leere Stadt, liefern das Essen ab und ergreifen sofort wieder die Flucht. Sie haben keinerlei Interaktion mit uns und blieben anonym, leisteten unsichtbare Arbeit.“ Die Frage, woher diese Menschen kamen und wohin sie fuhren, war der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich recherchierte zu Plattformarbeit, Gig Work, der „Ghost Work“ genannten unsichtbaren Arbeit, zu Algorithmus basierter Arbeit und der damit einhergehenden zunehmenden Kontrolle durch Algorithmen, und lernte so vielfältige Phänomene der heutigen Gesellschaft kennen.
Für „Delivery Dancer’s Sphere“ wollte ich Raum und Zeit falten und verschlingen und so ein Labyrinth erschaffen. Nach Abschluss des Projekts 2022 war das Feedback sehr positiv, und ich wurde als Preisträgerin des ACC Future Prize ausgewählt. Für diesen erschuf ich dann das Nachfolgewerk „Delivery Dancer’s Arc: Inverse“. Für dieses Werk kreierte ich eine neue, unterirdische Welt namens Novaria und ließ die Kalender der Antike und der Gegenwart kollidieren. Außerdem wird die Geschichte des Widerstands durch die beiden Hauptfiguren erzählt, welche das Zeitkonzept und die Kosmologie der Antike wiederherstellen möchten.
In jeder Ära entstehen beim Auftreten neuer Technologien automatisch neue Diskurse und Kunstformen. Ich bin daran immer sehr interessiert. Mit dieser Einstellung gehe ich an die Thematik heran und habe daher zu der Frage, wie tiefgehend unsere Kommunikation mit generativer KI sein kann, viel F&E (Forschung und Entwicklung) betrieben. Dabei habe ich viele interessante Aspekte entdeckt. Zunächst einmal habe ich begriffen, dass man die Grammatik eines generativen KI-Modells genau verstehen muss, um mit ihm zu kommunizieren. Ich habe erkannt, dass KI eindeutig nur ein Werkzeug ist, und dieses Werkzeug kann noch keinen eigenen Willen entwickeln. Für kreative Schaffensprozesse fehlen ihm noch Gefühle, Schmerzen und Qualen.
Für Menschen als Zielgruppe ist ein allein von einer KI durchgeführter Schaffensprozess zum jetzigen Zeitpunkt also unmöglich. Von KI geschaffene Werke erhalten erst dann eine Bedeutung, wenn der Mensch ihren Wert anerkennt. Aber das gilt nur für den Fall, dass Menschen die Zielgruppe sind. Sollte irgendwann die Situation entstehen, dass KI untereinander ihre Werke rezipieren, dann sind wir bereits in einer Dimension, die das Bewusstsein des Menschen übersteigt.
Alle, die mit KI etwas erschaffen haben, sind sich auch darin einig, dass es wichtig ist, die Grammatik der KIs zu verstehen. Das fand ich sehr interessant. Es braucht den Prozess, dass man eine Frage stellt; ein Ergebnis erhält, nach dem man gar nicht verlangt hatte; und dann die Frage wieder und wieder korrigiert und verändert. Ich habe diesen Prozess „Care-Arbeit“ genannt. Es war, als spräche man mit einem Kind, das noch nicht richtig kommunizieren kann, und man versucht permanent, dessen Absicht zu verstehen und auf verschiedene Weise zu einem Ergebnis zu kommen.
Was feststeht: jeden Tag, jeden Monat kommen neue Technologien auf, und schon bald kann man sich kaum noch vorstellen, wie die Welt ohne sie war. Die Gegenwartskunst oder -kultur kann sich hier aus meiner Sicht von dem, was die Industrie durch diese Technologien entwickelt, absetzen, indem sie die Technologien etwas verzerrt oder neu rekonstruiert. So hat die Kunst ja auch bislang immer überlebt. Deswegen müssen Künstler heute nicht nur ihre technologischen Kompetenzen, sondern auch ihre „literacy (Fähigkeiten)“ bezüglich der Technologien ständig weiterentwickeln, auch wenn das anstrengend ist.
Denn wenn sie das nicht tun, würde die Technologie irgendwann zu einer zunehmend unverständlichen, undurchschaubaren Existenz werden. Zudem verwandeln sich in unserer technologisch hoch entwickelten Gesellschaft immer mehr Bereiche zu einer Blackbox. Vor allem die Algorithmen der Big-Tech-Unternehmen sind so geheim und kompliziert, dass man ihre Essenz kaum noch ergründen kann. Deswegen denke ich, dass Bemühungen, die Mechanismen der generativen KI zu verstehen, zum jetzigen Zeitpunkt in welcher Form auch immer notwendig sind.
Sie scheinen die Genres Fantasy und Science-Fiction sowie Verbindungen der beiden zu mögen. Was macht für Sie den Reiz dieser Genres aus?
Nach Abschluss meines Studiums in Großbritannien nahm ich in Deutschland an einem Residenzprogramm teil und entwickelte dort ein ausgeprägtes Problembewusstsein zu Modernisierungsprozessen in Europa und Korea. Damals hatte ich schon lange an Projekten gearbeitet, die die Moderne in Korea beleuchteten, und mich eingehend mit historischen Materialien befasst. Zunächst entwickelte ich fiktive Welten, die auf historischen Tatsachen beruhten, aber dabei stieß ich beim Experimentieren mit der ästhetischen Autonomie an Grenzen. Denn wenn man historische Ereignisse behandelt, wird man vorsichtig. Da fragte ich mich, wie ich wohl eine ästhetische Autonomie freier zum Ausdruck bringen könnte. So um das Jahr 2017 wurde ich dann sehr von den Werken fantastischer Romanautoren beeinflusst.
Der Afrofuturismus, vor allem die Werke von Octavia Butler, Werke von weiblichen oder queeren SF-Autoren und solche, in denen Minderheiten eine große Rolle spielen, übten einen großen Reiz auf mich aus. Die koreanische Person Djuna, die SF-Werke verfasst, mag ich sehr gerne und halte sie für so etwas wie einen Nationalschatz. Unter dem Einfluss all dieser Menschen begriff ich, dass Autor*innen, die SF-Romane über Minderheiten schreiben, diese nicht nur als ein amüsantes Experiment betrachten, sondern Fantasy und Science-Fiction als eine politische und ästhetische Methodik nutzen, um die Realität neu wahrzunehmen. Diese Erkenntnis inspirierte mich dazu, meinen problembewussten Blick auf die Welt beizubehalten und gleichzeitig eine ästhetische Autonomie zu entwickeln. Daraufhin begann ich, frei erfundene, fiktive Werke zu erschaffen.
Sie verfügen über ein ausgeprägtes Talent, reale Probleme bezüglich Migration, Frauen oder Flüchtlingen durch virtuelle Vorstellungskraft zu beleuchten. Welche Themen und Formen finden sich in der Ausstellung „Many Worlds Over“, die seit Februar 2025 im Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart stattfindet?
(Zeigt eine Simulation des Ausstellungsraumes)
Die Ausstellung „Many Worlds Over“ zeigt einen Großteil meines Werkzyklus „Delivery Dancer“. Es werden alle fünf Räume im 1. Stock genutzt. Der Titel „Many Worlds Over“ wurde nach vielen Diskussionen mit den Kurator*innen der Ausstellung, den Direktoren des Hamburger Bahnhofs Sam Bardaouil und Till Fellrath sowie der Kuratorin Charlotte Knaup, festgelegt. Meine Werke basieren auf der Theorie der möglichen Welten. Die einzelnen Werke funktionieren alleinstehend als abgeschlossene Welten, beinhalten aber auch das Konzept, dass sie unterschiedliche Versionen einer Welt sein könnten. Ich wollte Welten erschaffen, bei denen man sich beim Durchschreiten der Ausstellungsräume immer wieder fragt, ob dies der gleiche Raum in einer anderen Zeit ist oder ich auf mich selbst in der Zukunft treffe; in denen man vertraute Déjà-vus erlebt, die Welten sich aber immer wieder ein wenig verändern. Deswegen haben wir diesen Titel gewählt, im Sinne von: „über mehrere Welten hinweg“.
Wenn man die Ausstellung betritt, tauchen Spiegel auf, in denen man sich selbst sieht. Durch eine optische Illusion mithilfe unzähliger Spiegel treffen die Besucher*innen immer wieder auf ihr doppeltes oder dreifaches Antlitz. Und auch durch die zwei weiblichen Hauptfiguren in „Delivery Dancer’s Arc“, Ernst Mo und En Storm, die genau gleich aussehen, entsteht eine zweifache Beziehung. Zudem habe ich mithilfe industrieller Rahmenmodule einen Raum erschaffen, der einem Speditionslager nachempfunden ist. In diesem habe ich eine labyrinthartige Struktur aufgebaut, in der sich Zeit und Raum ineinander verschlingen. Die Ausstellung verbindet zahlreiche Medien miteinander. Sie beginnt mit dem Video aus „Delivery Dancer’s Sphere“, dem ersten Werk der Serie „Delivery Dancer“; beinhaltet verschiedene Installationen wie die „Orbit Dance Series“, die von diesem Werk abgeleitet wurde, sowie das Spiel „Stipulation“ ; und endet mit dem jüngsten Werk, der Dreikanal-Videoinstallation „Delivery Dancer’s Arc: 0° Receiver“.
Ist das Genre dadurch vom „Sehen“ zum „Erleben“ erweitert worden? Es hört sich auch so an, als wäre die Ausstellung recht groß?
Ja, das stimmt. Das audiovisuelle Erleben wird vielfältiger, und die Ausstellung beinhaltet auch Installationen und Skulpturen. Auch Werke mit Mannequins gibt es. Die Vorbereitungen liefen dankenswerterweise gut, und auch der Versand der Werke wurde problemlos abgewickelt. Der Katalog, den der Hamburger Bahnhof bei jeder Ausstellung herausgibt, ist dieses Mal mit einem besonderen Design produziert worden. Er ist sehr leicht, sodass man ihn wie ein Handbuch mit sich herumtragen kann, und ist auch preislich sehr günstig.
Dass sich Informationen in der digitalen Ära nicht auf dem Handy, sondern im Papiermedium Katalog befinden und das Erlebnis so auf den Raum außerhalb des Museums erweitert wird, fühlt sich außergewöhnlich an. Sind in dem Katalog auch besondere Inhalte enthalten?
Sam Bardaouil fand bei der Planung der Ausstellung die Rolle der koreanischen Subkultur der Webtoons in meinem Werk besonders interessant. Die Kurator*innen zeigten großes Interesse an Webtoons, welche einen großen Teil meiner Arbeit ausmachen, in Deutschland aber immer noch ein weitgehend unbekanntes Format sind. Insbesondere „GL (Girls' Love)“, ein Subkulturgenre, das queere Beziehungen zwischen Frauen behandelt, hatte es ihnen angetan. Meine Arbeit wird stark von der Kultur der Webtoons und Webromanen beeinflusst, sodass ich ihr Interesse verstehen konnte. In der Tapeteninstallation „Evening Peak Time Is Back“ habe ich gemeinsam mit der Webtoon-Künstlerin 1172 entwickelte Figuren verwendet. Dieses Werk lehnt sich im Stil an GL-Webtoons an. Ich bin ein langjähriger Fan dieses Genres und wollte den Stimmen von queeren Frauen Gehör verleihen.
Im Katalog sind dieses Mal auch Auszüge zweier Werke von GL-Webtoon-Künstlerinnen enthalten. „Kill Switch“ von 1172 und „Haegu (Meeresgraben)“ von cosmos sind beide nur für Erwachsene freigegeben. Wir haben daher unter Rücksprache mit den Künstlerinnen die Bilder ausgewählt, die wir verwenden konnten, und sie für das Layout bearbeitet. Diese beiden Werke tauchen im Katalog immer wieder ganzseitig auf. Da in Europa der Begriff GL nicht gängig ist, war dies für die Kurator*innen sehr interessant. Ich konnte ein großes Bedürfnis ihrerseits erkennen, dieses Genre vorzustellen.
Gab es einen besonderen Grund, warum diese Ausstellung im Hamburger Bahnhof stattfindet?
Bevor ich darauf eingehe, möchte ich mich zunächst für die Einladung bedanken. Als ich 2011 im Berliner Künstlerhaus Betanien eine einjährige Residenz hatte, war das für mich eine wirklich glückliche und lehrreiche Zeit. Sie hatte einen großen Einfluss auf meine Entwicklung als Künstlerin, und der Austausch mit anderen Künstler*innen, die ich dort traf, hat viele Synergien ergeben. Diese gute Zeit nimmt einen wichtigen Platz in den Erinnerungen an meine Jugend ein.
In dieser Zeit war der Hamburger Bahnhof das Kunstmuseum, das ich am liebsten mochte. Er ist das Zentrum der zeitgenössischen Kunst, jeder will dort eine Ausstellung machen. Tatsächlich fragte ich mich Anfang letzten Jahres plötzlich, wie es wäre, wenn ich im Hamburger Bahnhof irgendwann einmal eine Einzelausstellung machen könnte. Davon träumte ich, und als mich Sam Bardaouil nur wenige Monate später wirklich kontaktierte, war ich sehr überrascht und habe mich über diese Nachricht sehr gefreut.
Das ist ja wie im Film.
Ich glaube, ich muss sehr dankbar sein. Vor allem die Tatsache, dass ich eine Einzelausstellung in einem deutschen Nationalmuseum habe, macht das Jetzt für mich zu einem sehr, sehr bedeutsamen und besonderen Moment. Wo ich in meiner Entwicklung als Künstlerin gerade stehe, wird mir für meine zukünftige Arbeit eine große Hilfe sein. Ich habe große Erwartungen daran, dass diese Ausstellung für mich ein Scheideweg ist und mir eine neue Welt eröffnen wird.
Da für diese Ausstellung existierende Werke in einem neuen Kontext kuratiert wurden, war ich sehr gespannt darauf, wie die Kurator*innen die Werke kombinieren würden. Es gab viele Besprechungen, bei denen Ideen gebrainstormt wurden. Vor allem die Tatsache, dass die Ausstellung auf fünf Räume verteilt war, war eine Herausforderung. Meine Ausstellungen fandet bislang entweder in einem großen Raum statt, oder es handelte sich um Einzelausstellungen mit nur einem Projekt. Dies war das erste Mal für mich, dass aus mehreren Werken eine Einzelausstellung zusammengestellt wurde. Es gab verschiedene Lösungsvorschläge, aber ich war begeistert vom Gespür der Kurator*innen für Szenografie, Raumgestaltung und Wegeführung.
Wie die Konzepte, die die Ausstellung behandelt – die Erfahrung, seinem eigenen Klon zu begegnen, unendlich viele andere mögliche Welten, die Möglichkeit mehrerer Zeitlinien – im Raum aufgenommen wurden, hat mich wirklich beeindruckt. Es war eine Freude, dabei zu entdecken, dass meine Werke auch auf diese Weise ausgestellt werden können.
Können Sie uns erklären, worauf Besucher*innen der Ausstellung besonders achten sollten?
Die Ausstellung ist wie ein Labyrinth, das immer wieder überlappt und sich in verschiedene Ecken ausdehnt. Die Besucher*innen werden in dem Raum die Erfahrung machen, ständig einem anderen Ich zu begegnen, das aus einer anderen Welt kommt. Ich wünsche ihnen, dass sie sich bereitwillig darauf einlassen, den Weg zu verlieren und sich unzählige mögliche Welten vorzustellen. Diese Ausstellung ähnelt auch dem heutigen Leben, in dem Technologie in alle Bereiche Einzug gehalten hat. Ich wollte einen neuen Weg vorschlagen, mithilfe von Fantasy und Fiktion über die Gegenwart nachzudenken.
Welche Pläne haben Sie für die Zeit nach der Ausstellung im Hamburger Bahnhof?
Meine nächste Ausstellung ist eine Einzelausstellung im Atelier Hermes in Seoul, die Ende März beginnt. Im Mai ist eine Ausstellung zum 25. Geburtstag der Tate Modern geplant, bei der Werke aus dem Bestand der Galerie ausgestellt werden, darunter auch mein Werk „Delivery Dancer’s Sphere“. Im November findet im New Yorker MoMA PS1 eine Einzelausstellung statt, und im selben Monat wird bei der New Yorker Performing Arts Biennale ein neues Werk von mir gezeigt, worauf ich mich sehr freue.
Wie bereits erwähnt, mag ich die Romane von Djuna sehr. Derzeit beschäftige ich mich mit der Animations-Serie „Æon Flux“, die Anfang der 1990er Jahre für MTV produziert wurde. Sie stammt vom koreanischen Amerikaner Peter Chung und handelt von einer asiatischen Auftragskillerin, die in einer futuristischen, dystopischen Welt lebt. Die Handlung ist sehr konfus. In jeder Folge wird die Hauptfigur getötet, taucht dann aber in der nächsten Folge einfach wieder auf, als sei nichts gewesen. Das hat bei mir großen Eindruck hinterlassen, und diese Serie hat viele meiner Arbeiten inspiriert. Auch dieses Mal nutze ich die Action-Szenen aus der Serie als Ausgangspunkt für ein neues Werk, an dem ich gerade arbeite.
Wir sind gespannt auf Ihre nächsten Arbeiten. Herzlichen Dank für das Interview.
Ich habe zu danken.