Wenn die Orientierung in dieser schrecklichen Situation zu einer aufschlussreichen Beobachtung geführt hat, dann ist es die, dass nach einem Ereignis, bei dem der Tod so hautnah zu spüren war, sich auch Sinnstrukturen aufzulösen scheinen. Diese Symptome könnte man auch als Teil einer Krise der Repräsentation begreifen. Wie können wir uns also wieder auf die Ausübung der Künste besinnen, in einer Zeit, in der die Bevölkerung des Libanon einen erdrückenden Verlust und einen „dritten Massenexodus“ als Folge der anhaltenden finanziellen und wirtschaftlichen Katastrophen des Landes erlebt? Können ästhetische und performative Interventionen einen Gegenpol zu unseren Erfahrungen von Gewalt bilden und uns dabei helfen, Zugang zu einem kollektiven Bewusstsein zu finden? Und was ist mit Kulturschaffenden, Institutionen und Kritiker*innen und ihrer Rolle bei der Schaffung notwendiger Räume des Austauschs und der Auseinandersetzung im Kontext der Krise?
„Frankfurt-Beirut“, das vom Goethe-Institut Libanon und Ashkal Alwan organisiert wird und von Oktober bis Dezember 2021 an verschiedenen Orten in Beirut gezeigt wird, ist ein Unterkapitel von „This Is Not Lebanon. Festival for Visual Arts, Performance, Music and Talks“, das im vergangenen Sommer in Frankfurt am Main stattfand. Letzteres ist ein Kooperationsprojekt des Frankfurt LAB mit dem Künstlerhaus Mousonturm und dem Ensemble Modern, in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Libanon.
Die von Matthias Lilienthal, Rabih Mroué und Anna Wagner kuratierte Veranstaltung „This Is Not Lebanon“, die von Christine Tohme kuratorisch unterstützt wurde, bot Künstler*innen, Journalist*innen, Musiker*innen, Wissenschaftler*innen und Schriftsteller*innen aus dem Libanon, der Diaspora und dem arabischsprachigen Raum Gelegenheit, sich mit unseren unerträglichen materiellen Bedingungen auseinanderzusetzen und dagegen anzukämpfen. Während einige über die Oktoberaufstände 2019 mit ihren Möglichkeiten zur Gestaltung der Welt nachdachten, bei denen wir versuchten, unser Schicksal von dem sektiererisch-klientelistischen Regime, das unser Leben durchdringt, abzukoppeln, sprachen andere über Aufschub, Verwundbarkeit und stummen Widerstand gegenüber der generationenübergreifenden Erinnerung und weiter zurückliegenden Vergangenheiten. Das Festival hatte auch zum Ziel, Raum für Künstler*innen und Kulturschaffende zu schaffen, die sich der zunehmenden Isolation im Libanon widersetzen, um an generativen Formen des Dialogs mit anderen geografischen Räumen teilzunehmen und den Samen für eine transnationale Solidarität zu legen und ein Konzept dafür zu entwerfen.
„Frankfurt-Beirut“ wiederum wird sich auf vier neu in Auftrag gegebene Performances konzentrieren, die im Rahmen von „This Is Not Lebanon“ uraufgeführt wurden. Der Beweggrund, das Festival in Frankfurt zu veranstalten, bestand darin, eine Begegnung zwischen Künstler*innen und Kulturschaffenden aus dem Libanon und seiner Region mit der Öffentlichkeit in Deutschland zu ermöglichen und neue Produktionen materiell und kuratorisch zu unterstützen. Die treibende Kraft hinter der Entscheidung, ein Unterkapitel in Beirut zu veranstalten, besteht dementsprechend darin, den teilnehmenden Künstler*innen die Möglichkeit zu geben, ihre Performances in dem Kontext neu zu inszenieren, aus dem ihr Ausgangsmaterial stammt, und unser Publikum einzuladen, sich mit diesen Werken auseinanderzusetzen, sich mit ihnen zu beschäftigen oder sie gegebenenfalls auch in Frage zu stellen. Die Ausweglosigkeit, die auf unserer Gegenwart lastet, und der Wegfall der emanzipatorischen Horizonte, die sie projiziert, sollten uns keineswegs davon abhalten, uns an der kulturellen Produktion zu beteiligen, zumal der Sektor mit großer Unsicherheit und der fortgesetzten Vertreibung seiner Communitys konfrontiert ist.
Die gezeigten Arbeiten von Ali Eyal, Ghida Hachicho, Sanja Grozdanić und Bassem Saad sowie Noor Abed und Mark Lotfy unterscheiden sich zwar in Form und Intention, haben aber denselben Anspruch: Sie untersuchen die Akte des Zeugnisablegens über nicht aufgeklärtes Unrecht und stellen drängende Fragen über die Gewalt, die unseren Alltag durchdringt. Darüber hinaus sind ihre Interventionen in mehr als einer Hinsicht Zeugnisse dafür, wie die Kunstpraxis eingesetzt werden kann, um versteckte Schichten der Geschichte lesbar zu machen und gegenwärtige Strukturen zu hinterfragen, die Verzweiflung und Entrechtung erzeugen. Wir werden vielleicht nie in der Lage sein, die Schrecken, die über uns hereinbrechen und uns unserer politischen Handlungsfähigkeit berauben, zu „repräsentieren“ oder nachzuvollziehen, aber es ist für uns von größter Wichtigkeit, eine alternative Zukunft durchzuspielen, sie zu imaginieren und auf sie hinzuweisen. Diese Gratwanderung zwischen der Erkenntnis, dass es unmöglich ist, sich mit einer gegebenen Realität auseinanderzusetzen, und dem Wunsch, in ihre Risse und Spalten einzugreifen, wenn nicht gar sie zu besetzen, mag sich als nicht zu bewältigen erweisen, aber es ist eine, für die sich Eyal, Hachicho, Grozdanić und Saad, Abed und Lotfy sowie die Organisatoren von „Frankfurt-Beirut“ entschieden haben.
„Frankfurt-Beirut“ ist ein Unterkapitel von „This Is Not Lebanon. Festival for Visual Arts, Performance, Music and Talks“ das von August bis September 2021 in Frankfurt am Main stattfand und in Zusammenarbeit mit Ashkal Alwan, The Lebanese Association for Plastic Arts, organisiert wurde.
„This Is Not Lebanon. Festival for Visual Arts, Performance, Music and Talks” ist ein Kooperationsprojekt des Frankfurt LAB mit Künstlerhaus Mousonturm und Ensemble Modern in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Libanon. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, das Goethe-Institut und die Bundeszentrale für politische Bildung. Die Residenzen im Rahmen von „This Is Not Lebanon. Festival for Visual Arts, Performance, Music and Talks” sind Teil von „Frankfurt Moves!", einer Kooperation der KfW Stiftung mit dem Frankfurt Lab zur Förderung internationaler aufstrebender Künstler*innen im Bereich Tanz und Darstellende Künste.