Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Ein Essay über Identitäten
Wer waren die Einwohner von Klaipėda nach 1990 und wer wollten sie sein?

Wer waren die Einwohner von Klaipėda nach 1990 und wer wollten sie sein?
© Goethe-Institut Vilnius/Foto Akvilė Eglinskaitė

Von Vasilijus Safronovas

Im Kontext der litauischen Städte von heute nimmt Klaipėda mit Sicherheit einen besonderen Platz ein – und das nicht nur als Tor Litauens zum Meer und Zentrum der touristischen Ostseeküste, sondern auch wegen der besonderen Geschichte der Stadt. Als einzige Großstadt Litauens hatte sie im Laufe ihrer Geschichte zwei völlig unterschiedliche Namen: Seit dem Mittelalter ist die Stadt als Memel und Klaipėda bekannt. Nie Teil des Großfürstentums Litauen, kam sie erst 1923 erstmals zur Republik Litauen. Im Gegensatz zu den anderen Landesteilen, in denen zur Zeit der Reformation der Katholizismus obsiegte, stand das preußische Memel seit dem 16. Jahrhundert unter dem Einfluss der protestantischen Kultur. Mehrere Jahrhunderte lang war Memel in erster Linie eine preußische Festung, die sich schließlich im 19. Jahrhundert unter veränderten geopolitischen Bedingungen an der Grenze zweier Kaiserreiche wiederfand – dem Deutschen der Hohenzollern und dem Russischen der Romanows. Zugleich betrachtete man Klaipėda schon seit dem 16. Jahrhundert als Teil Litauens, nur verstand man unter diesem Begriff  etwas anderes: Litauen umfasste in der damaligen Vorstellung nicht nur die Herrschaftsgebiete des Großfürstentums Litauen, die später in der Rzeczpospolita (Adelsrepublik Polen-Litauen) aufgingen und schließlich zum Teil des Russischen Kaiserreiches wurden; Litauische Ämter, Provinz Litauen oder einfach Litauen nannte man auch den östlichsten Teil Preußens – und dies bis zum ersten Weltkrieg.

Des Weiteren gehört Klaipėda zu den wenigen Städten der Ostseeregion, deren Bevölkerung als Folge des Zweiten Weltkriegs vollständig ausgetauscht wurde. Alle früheren Bewohner der Stadt wurden Ende 1944 und Anfang 1945 organisiert evakuiert oder flohen selbst ins Innere Deutschlands; nach Kriegsende kehrten nur vereinzelte Einwohner zurück. Die Stadt wurde beinahe zu 100 Prozent mit Ankömmlingen aus anderen Teilen der UdSSR, die meisten aus der Litauischen SSR, neu besiedelt. Die Migration hielt lange an. Unter sowjetischer Oberherrschaft wuchs die Stadt im Rekordtempo (1939 zählte Memel 52 000 Einwohner, 1989 Klaipėda 203 000), wobei die Migration in den ersten Nachkriegsjahrzehnten den Löwenanteil des Einwohnerzuwachses ausmachte. Somit ist das heutige Klaipėda eine Stadt der Nachkriegsmigranten, in der die hier verwurzelten Bewohner mit in der Stadt oder ihrer Umgebung geborenen Eltern oder gar Großeltern eine Minderheit bilden.

Bis zum zweiten Weltkrieg war das Deutsche die Lingua franca in Memel, während nach dem  Krieg das Russische für einige Jahrzehnte diese Rolle übernahm. Im Mittelalter siedelten in der Gegend neben Ankömmlingen aus verschiedenen Regionen des Ostseeraums die hier seit alters her ansässigen Kuren. In der frühen Neuzeit hörten Reisende die Leute in der Stadt Deutsch, Kurisch, Polnisch und Litauisch sprechen; außer Lutheranern wohnten hier auch Reformierte, Katholiken, Juden, später kamen Anglikaner, Mennoniten und Baptisten dazu. Im Verlauf des 19. Jahrhundert nahm der Anteil der Arbeiterbevölkerung, die sich nur in sehr beschränktem Maß für die gemeinsame städtische Kultur engagierte, immer mehr zu. Als nationalistische Ideen im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die grundlegende Bedeutung einer Identifikation mit einem einzigen Volk aktualisierten, nahm die Teilung der Stadt in Deutsche und Litauer ihren Anfang – verbunden mit dem Streit, wem sie mehr gehörte. Zugleich bildete sich hier im 19. Jahrhundert eine der größten jüdischen Kolonien in Ostpreußen heraus, die aus mehreren Gemeinden unterschiedlicher Strömungen bestand. Zwischen 1923 und 1939, als Klaipėda/Memel zur Republik Litauen gehörte, nahm die Zahl der litauischen Katholiken und jüdischen Litwaken am stärksten zu, doch die Deutschen stellten auch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg noch immer den überwiegenden Teil der Stadtbevölkerung. Nach dem Krieg dominierten zu Beginn sowohl zahlenmäßig als auch hinsichtlich ihres Einflusses die Russischsprachigen (Russen, Belarusen, Ukrainer, sowjetischen Juden u. a.), und erst später gewannen die Litauer die Überhand. Die tatsächliche Litauisierung Klaipėdas begann in der Sowjetzeit und dauert bis heute an: Die Litauer, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt etwa 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten, erlangten die zahlenmäßige Mehrheit nach Stalins Tod im Jahre 1953; vor der Wende (1989) stellten sie 63 und 2011 bereits 74 Prozent der Einwohner Klaipėdas.

Womit haben sich die Bewohner von Klaipėda in den letzten Jahrzehnten identifiziert?

Die Identität eines Großteils der Stadtbewohner – ob sie sich das nun eingestehen oder nicht – beruhte im Wesentlichen auf den Erfahrungen der Sowjetzeit. Zu Beginn des Jahres 2020 waren die Einwohner von Klaipėda nur zu einem Drittel nach 1990 geboren, während 45 Prozent ein Alter erreicht hatten, in dem sie mit sechzehn noch einen Inlandpass der UdSSR erhalten hatten. Die sowjetischen Lebensbedingungen führten zur Herausbildung zahlreicher Gewohnheiten, Geschmacks- und Moralnormen sowie Handlungsweisen, die sich bis heute erkennen lassen. Eine massenhafte Entsowjetisierung fand nach 1990 in Litauen nicht statt, und der mit großer Verspätung umgesetzte Lustrationsprozess erfasste nur die ehemaligen formellen und informellen Mitarbeiter der sowjetischen Staatssicherheit. Deshalb hat sich zwar die Auffassung durchgesetzt, das Sowjetsystem sei Litauen aufoktroyiert worden, und die UdSSR habe ihre Bedeutung als Referenzrahmen verloren, aber die Alltagskommunikation lässt bis heute auf Schritt und Tritt Bedeutungen und Handlungsweisen erkennen, deren Wurzeln in den Ängsten und Traumata liegen, die sich die Menschen in der Sowjetzeit anerzogen hatten, in der Mangelwirtschaft und in der kärglichen materiellen Lage jener Zeit, in der Art, wie man damals den »Staat« sah, nämlich nicht als »wir«, in der längst verinnerlichten Norm, den anderen so zu beeinflussen, dass er das »System umgeht«, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Während die Erfahrungen der Sowjetzeit allen litauischen Städten gemein sind, sticht Klaipėda dadurch heraus, dass seine Bewohner in der Zeit »der Rückkehr zur Normalität« in den Jahren 1988–1991, als man allerorten das in der »abnormen« Sowjetzeit Verlorene wiederherzustellen versuchte, womöglich als Einzige symbolisch in eine Zeit und einen Raum »zurückkehren« mussten, denen sie sich kaum verbunden fühlten. Andernorts liefen der Brückenschlag zum litauischen Staat zwischen den beiden Weltkriegen und die Herausbildung des Gefühls, die 1940 verlorene Staatlichkeit fortzuführen, deutlich reibungsloser ab. Um Verbindungen zur Stadt vor dem Krieg herzustellen, mussten sich die Klaipėdaer mit etwas identifizieren, was viele von ihnen in stereotyper Weise noch immer als »das deutsche Memel« begriffen. Der Herausforderung eines Brückenschlags zur »fremden« Vorkriegsstadt begegneten die Stadtbewohner in zweierlei Weise: Eine bis heute verfolgte Strategie beruht auf die Quellen der litauischen Nationalkultur mit Bezug auf Preußisch-Litauen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Eine Vielzahl von Zeichen der litauischen Kultur in der Region, beginnend mit dem Pfarrer Martynas Mažvydas (Martin Mosvid, Martinus Masvidius) im 16. bis zur Schriftstellerin Ieva Simonaitytė (Eva Simoneit) im 20. Jahrhundert wurden zu symbolischen Bezugspunkten. Ihre Aktualisierung machte es den Menschen in Klaipėda leichter, die Region als Teil des litauischen Kulturareals zu begreifen, ließ sie aber zugleich die multikulturelle Vergangenheit von Klaipėda/Memel nur selektiv wahrnehmen. Die zweite Strategie beruht auf der Mobilisierung der Öffentlichkeit für eine große Zahl von Projekten zur Wiederherstellung von Stadtsymbolen samt deren Bedeutungen. Dazu gehören so verschiedene Initiativen wie die alljährliche Feier der Stadtgründung seit 1991 im Sinne der Identifikation mit den Initiativen des Deutschen Ordens, die Wiedereinsetzung des alten Stadtwappens oder auch grandiose Pläne wie der Wiederaufbau der Memelburg und der am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstörten Johanniskirche.

In der Wendezeit strebten die Leute in Klaipėda nicht nur nach einem Brückenschlag zur Vergangenheit, sondern auch zur Zukunft. Am 9. Februar 1991 sprachen sich 69 Prozent der Stimmberechtigten in der Stadt bei einer Volksbefragung für »eine unabhängige und demokratische Republik« Litauen aus. Das waren mehr als der statistische Anteil der Litauischsprachigen in Klaipėda, aber weniger als durchschnittlich im Rest von Litauen. Ein Teil der Einwohner, die hier keine Wurzeln zu schlagen hofften oder sich nicht als Teil der neuen Gesellschaft sahen, emigrierte (der aktive Wegzug in andere Sowjetrepubliken hatte noch 1989 begonnen). Ein anderer Teil blieb in Klaipėda, bemühte sich aber nur wenig um eine Integration in die neue litauische Gesellschaft. Dies lag auch daran, dass das Umfeld für die Pflege einer nichtdominanten ethnischen Identität in Klaipėda auch nach 1990 in vielen Fällen günstig blieb. Obwohl die Möglichkeiten, ohne Litauischkenntnisse eine Stelle zu finden, sich immer weniger wurden, erschien »Klaipėda«, die wichtigste Zeitung der Stadt, noch lange in Litauisch und Russisch. Das Netz der Schulen mit russischer Unterrichtssprache in der Stadt schrumpfte von 11 (von insgesamt 29) im Jahre 1990 auf sechs (von 36 inkl. Privatschulen) 2020. In welchem Maß dies dazu beitrug, dass viele Stadtbewohner auch nach 1990 im russischen Informationsraum verblieben, verdient eine eigene Untersuchung. Aber um der Gerechtigkeit willen muss auch gesagt werden, dass auch viele Nicht-Russischsprachige die russische Popkultur nach 1990 in Massen konsumierten …

Die Identitäten der jüngeren, gegenüber Transformationen offeneren Einwohner prägten nicht nur in Klaipėda, sondern in ganz Litauen nach 1990 zwei charakteristische Tendenzen. Bei der ersten handelt es sich um die 1990 einsetzende ökonomische, kulturelle und wertebezogene (Re)integration in den »Westen«. Fast ein Jahrzehnt lang stand Klaipėda an der Spitze dieser Integration, die einen Großteil der Stadtbewohner erfassen konnte, weil sie erheblich offener für den »Westen« waren als die Bewohner anderer litauischer Städte. Hinzu kam die 1991 gegründete Universität Klaipėda, die hoffen ließ, dass der Stadt die Transformation von der Industrie- zur Universitätsstadt gelingen könnte. Bei der zweiten Tendenz handelte es sich um den Einfluss der Konsumkultur, der sich infolge des Zusammentreffens mehrerer Faktoren nach 2000 besonders  stark ausweitete. Als die eigene Wahl und der damit verbundene Konsum und nicht mehr ständische, konfessionelle oder ethnische Unterschiede in immer stärkerem Maß über die Identifikationsmöglichkeiten entschieden, standen der von Faktoren wie »Geschmack«, »Stil« oder »Mode« abhängenden Demonstration von Selbstidentifizierung und -abgrenzung weitgehend Tür und Tor offen.
 

Ausführlicher siehe:
Kraniauskas L., Gedutis A., Acus A., Kraniauskienė S., Viluckienė J., Spiriajevas E. Klaipėdos diskursai 1990–2010 m.: sociologinė miesto tapatybių rekonstrukcija (Klaipėda 2012);
Safronovas V. The Creation of National Spaces in a Pluricultural Region: The Case of Prussian Lithuania (Boston 2016);
Safronovas V. Kampf um Identität. Die ideologische Auseinandersetzung in Memel/Klaipėda im 20. Jahrhundert (Wiesbaden 2015) [frühere litauische Version: Praeitis kaip konflikto šaltinis: Tapatybės ideologijų konkurencija XX amžiaus Klaipėdoje (Vilnius 2011)];
Safronovas V. Klaipėdos miesto istorija (Klaipėda 2020).

    Die Kommentarfunktion wurde geschlossen.
  • Kommentieren

Top