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Litauen in der Fläche
Marijampolė mausert sich zur Stadt

Marijampolė
© Goethe-Institut Vilnius/Foto (Ausschnitt) Akvilė Eglinskaitė

Als meine Eltern mich in der sechsten Klasse bei einer Schule in Marijampolė anmeldeten, konnte ich, das Dorfkind, kaum mehr ruhig schlafen. Ich würde bald in die Stadt ziehen, wenn auch in eine kleine, denn Marijampolė zählt weniger als 40.000 Einwohner. Doch ich wusste, der Alltag würde jetzt anders aussehen.

Von Karolis Vyšniauskas

Und so kam es denn auch. Die Jugendlichen in Marijampolė kleideten sich wie Goths, auf dem Markt der Stadt bekam man illegale Kopien von Computerspielen und in der Mittagspause musste man nichts Gesundes von Mutter aus der Brotbox mehr essen, sondern konnte zum nächsten Maxima marschieren und sich ein paar fette Tschebureki kaufen. Ich ließ mir die Haare wachsen, fand in einem Second-Hand-Laden einen Nirvana-Pullover und saß mit meinen neuen Freunden nach der Schule in einem nicht gerade sauberen Park im Zentrum herum. Das war unser Raum, unser Abenteuer, unsere Stadt.

Diese Zeilen schreibe ich in New York und zuvor habe ich zwölf Jahre lang in Vilnius gelebt, wohin es mich nach der Schule zum Studium verschlug. Seit ich erwachsen bin, habe ich andere Maßstäbe. Das große Marijampolė meiner Kindheitsvorstellung hat sich in Luft aufgelöst. Aber jedes Mal, wenn ich in diese Stadt zurückkomme, überrascht mich Marijampolė mit etwas Neuem, das von städtischem Leben zeugt. Heute kann man im Zentrum einen Kaffee aus frisch gemahlenen Bohnen trinken, in eine trendige Bierbar oder auch in ein vegetarisches Restaurant gehen – auch wenn man dort allein ißt. Auch einen E-Tretroller kann man sich in den Straßen der Stadt mieten oder sich Essen vom Lieferdienst nach Hause bringen lassen. Sogar ein McDonalds fehlt hier nicht. Von so etwas wagte ich in meiner Schulzeit nicht einmal zu träumen, denn das gehörte zu den Privilegien der großen Städte. Jetzt habe ich das alles, doch ich will es nicht mehr.

Hippe Lokale, Bars, fleischloses Essen und Fast-Food – all das sind neue Aspekte des  Alltags in Litauen, die sich eingebürgert haben, als die Bewohner öfter zu reisen begannen, mehr von der Welt sahen und sie zu kopieren versuchten. Marijampolė ist ein lebendiges Beispiel für die Veränderungen in Litauen und dafür, wie der Abstand zwischen dem litauischen und dem von vielen ersehnten westlichen Lebensstil immer kleiner wird.
 
Marijampolė hat sich nicht nur kulturell, sondern auch äußerlich verändert. Es hat sein altmodisches sowjetisches Gewand (in der sowjetischen Besatzungszeit hieß die Stadt nach einem führenden litauischen Kommunisten offiziell Kapsukas) durch ein europäisches ersetzt – besser gesagt „durch ein von den Strukturfonds der Europäischen Union finanziertes“. Einige rundum erneuerte Plätze erfreuten sich bei den Stadtbewohnern sofort großer Beliebtheit – so auch der Park der Poesie, in dem wir einst nach der Schule saßen. Andere wie der Zentralplatz der Stadt wirken jetzt eher abstoßend. Umweltaktivisten in Litauen haben erfolglos versucht, der um sich greifende „Verpflasterung“ der Städte Einhalt zu gebieten, die mit dem Fällen der Bäume und ihrer Ersetzung durch Pflastersteine einhergeht. Der Zentralplatz von Marijampolė und die daran vorbeiführende Straße haben diesen Prozess mit voller Wucht durchlaufen: weniger Bäume und Schatten, mehr Grau und Hitze. Da die Klimaerwärmung Litauen Jahr für Jahr einen neuen Hitzerekord beschert, erwacht der Platz im Sommer erst nach Einbruch der Dunkelheit zum Leben, und Paare gehen spazieren oder ein einsamer Skateboarder schaut vorbei.

Das neue Gesicht von Marijampolė wird nicht nur von Menschen gestaltet, die hier aufgewachsen sind, sondern auch von Besuchern der Stadt wie dem in Philadelphia lebenden Künstler Ray Bartkus, der alljährlich nach Marijampolė kommt, um die Wände der Stadt malerisch zu verschönern. Die Werke des von ihm initiierten Malonny-Projekts sind farbenfroh, verständlich und gemäßigt gesellschaftskritisch. In den acht Jahren seit dem Start des Festivals erhielten über 30 Wände in Marijampolė ein neues Gesicht. Die meisten Wandmalereien stammen von Künstlern aus New York und London und wurden nach ihren Zeichnungen von Freiwilligen, meist Schulkindern, an die Wände von Marijampolė gemalt.

Konfliktfreie Gemeinschaftsaktivitäten wie die erwähnten Kunstprojekte stehen in starkem Kontrast zur Stadtpolitik, der es eher schwerfällt, die Bürger der Stadt mit einzubeziehen. Vor den letzten litauischen Parlamentswahlen moderierten ein Kollege und ich eine öffentliche Debatte im Wahlkreis Marijampolė. Dabei stellten wir fest, dass die Zeit hier offenbar stehen geblieben ist, denn alle Kandidaten waren Männer, die in vielen Fällen nicht einmal in Marijampolė wohnten und die Stadt nur Trittbrett für ein Parlamentsmandat nutzten. Es dauerte eine Weile, bis wir erkannten, dass es sich bei den Zuschauern im Saal der renovierten Stadtbibliothek in der großen Mehrheit um Parteikollegen der Gesprächsteilnehmer handelte. Die „üblichen Verdächtigen“ gewährten neuen Ideen von Seiten der Bürger oder der Studenten, die die Debatten organisierten, keinen Raum. Dagegen finden auch junge Politiker als Mitglieder der Volksparteien den Weg in die Stadtpolitik. Sowohl der sozialdemokratische Bürgermeister der Stadt als auch der konservative Gewinner des Direktmandats für den Seimas, das nationale Parlament, sind 33 Jahre alt.

Im Basketballland Litauen gehört Marijampolė zu den wenigen Orten, an denen der Fußball den Sport dominiert. Der FC Sūduva, die Mannschaft der Stadt, erlebt gerade eine Art goldenes Zeitalter: 2017, 2018 und 2019 gewann er dreimal in Folge die litauische Fußballmeisterschaft, 2020 wurde er Zweiter. Das international besetzte Team wird von einem Spanier trainiert, die ausländischen Spieler kommen aus Frankreich, Portugal, Griechenland, Deutschland und der Ukraine. Auch der große Automarkt lässt einen internationalen Geist durch die Stadt wehen. Hier werden Autos, die für Litauer zu alt sind, nach Kasachstan und in andere Länder der Region verkauft. Außerdem sind in Marijampolė  NATO-Truppen stationiert.

In Anbetracht der Stadtgeschichte ist die Vielfalt der Menschen kaum erstaunlich. Einst war Marijampolė ein Schtetl – im 19. Jahrhundert stellten jüdische Einwohner ganze 80 % der Bevölkerung, die bis zum Zweiten Weltkrieg über hundert Läden und einige Dutzend Fabriken gründeten. Die ersten Fotos der Stadt stammen von jüdischen Fotografen und  die ersten Backsteinhäuser von jüdischen Architekten. Vytautas Grinius, der Kurator des städtischen Museums, stellte in einem Interview fest: „Fast alle Gebäude, die seit der Nachkriegszeit erhalten geblieben sind, gehörten einst jüdischen Mitbürgern – die älteren Stadtbewohner kennen noch die jüdischen Geschäfte, Banken, Apotheken, Sägewerke, Brauereien, Tavernen und die Druckerei, die sie beherbergten.“

Die Gebäude haben überlebt – ganz im Gegensatz zu den Menschen. Von den rund 3.000 Juden in Marijampolė zu Kriegsbeginn überlebte kaum einer den Holocaust – fast alle wurden von den Nazis und mit ihnen kollaborierenden Litauern ermordet. Dessen wurde ich mir aber erst bewusst, als ich mich selbst mit der Geschichte der litauischen Juden befasste, denn wir sprachen in der Schule nicht eigens über die Geschichte der Juden von Marijampolė und gingen nicht zu den Orten, an denen sie erschossen wurden. Die gar nicht so ferne Geschichte der Stadt wurde nicht an die neuen Einwohner weitergegeben – so, als hätte es sie gar nie gegeben.

Erst mit 31 Jahren, als ich Freiwilligenarbeit in einer Roma-Kindertagesstätte in Vilnius zu leisten begann, besuchte ich die erste Roma-Familie in Marijampolė. Die Stadt ist eng mit Jonas Basanavičius verbunden, dem Arzt und Herausgeber der ersten Zeitung in litauischer Sprache, der als der „Vater der litauischen Nation“ gilt und hier zur Schule ging. Deshalb wird Marijampolė gerne als fast homogene, „litauische“ Stadt angesehen. Dies ist jedoch eine beschränkte, wenig interessante und unvollständige Betrachtungsweise.

Wir sollten aber auch das übliche Narrativ nicht unerwähnt lassen, das da lautet: Marijampolė ist die siebtgrößte Stadt Litauens, liegt zu beiden Seiten der Scheschuppe (Šešupė) nicht weit von der Grenze zu Polen und rühmt sich des vielleicht schönsten Bahnhofsgebäudes in Litauen, entworfen von Edmund Fryk. Als das Amt für Statistik 2013 Marijampolė als „Hauptstadt der Milch und der Autos“ bezeichnete, entsprach das durchaus den Tatsachen, denn Marijampolė ist ein wichtiger Standort für große und kleinere Unternehmen im Umfeld der Landwirtschaft. Der größte Arbeitgeber der Stadt ist eine agrarische Unternehmensgruppe, der unter anderem ein Betrieb zur Putenverarbeitung und eine Zuckerfabrik angehören, auf deren Gelände ein Zuckerrüben-Denkmal steht.

Aber Marijampolė ist auch eine Stadt, in der man zunehmend das Gefühl hat, sie halte Schritt mit dem forschen Tempo der modernen Kultur. Hier kann man ein vollwertiges Stadtleben führen – zu einem Bruchteil der Lebenshaltungskosten größerer litauischer Städte. Ich beschloss, mir mit einer Freundin im renovierten Saal des Kinos Spindulys den düsteren Film „The Green Knight“ – einen der meistgefeierten des Jahres 2021 – anzusehen. Wir dachten, wir würden nur zu zweit sein, handelt es sich dabei doch um eine sehr besondere Art von Film und nicht um einen leicht gruseligen Hollywood-Streifen. Warum sollte sich im Spindulys jemand für so etwas interessieren?

Aber wir waren nicht allein. Vor uns kauften vier Goth-Mädels Eintrittskarten, die den 2004 aus dem (noch nicht renovierten) Park der Poesie kommenden aufs Haar glichen. Es war eine urbane Erfahrung, einen frisch erschienenen internationalen Film in einem guten Kino mit Leuten zu sehen, die sich für eine ähnliche Kultur interessieren wie wir selbst. Wer danach sucht, findet auch in Marijampolė Orte wie das Kino Spindulys, die ihr oder ihm besondere Erlebnisse bieten. Eine Stadt ist das, was ihre Community aus ihr macht – und im Moment wirkt Marijampolė fortschrittlich und voller kreativer Energie. Zumindest scheint mir, dem nostalgischen Besucher, der hier zurückkehrt, das so.

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