Michal Hvorecky empfiehlt
Der Platz an der Sonne
„Es könnte auch anders sein“, schrieb Robert Musil im vierten Kapitel des Romans „Mann ohne Eigenschaften“. Ein Wegzeichen des kritischen Denkens. Was, wenn viel oder sogar alles anders verlaufen wäre? Die alternative literarische Geschichtserzählung breitet spannende Szenarien aus. Literaturtheorie nennt das auch „parahistorisch“ oder Uchronie – als Parallele zur Utopie. Die Tradition ist alt. Schon Chronist Titus Livius überlegte, was passieren würde, wenn Alexander der Große länger gelebt und sich nach Westen gegen die Römer gewandt hätte? An einem Divergenzpunkt ist der Lauf der Weltgeschichte von dem uns bekannten abgewichen.
Der späte literarischer Debütant, Theologe und Kulturwissenschaftler Christian Torkler (geboren 1971) hat die globale Welt und vor allem Afrika bereist. In seinem Roman ist Deutschland nach dem brutalen Dritten Weltkrieg im Jahr 1978 in die Kleinstaaterei zerfallenen. Afrika ist die reiche Erste, Europa die Dritte Welt, wo Terror, Hunger und Massenarmut zum Alltag wurden. Die riesige Krisenregion leidet unter den Folgen bewaffneter Konflikte. Torkler will „schreibend ganze Welten erschaffen – und wieder zerstören, und zwar ohne dafür bestraft zu werden“. Sein unvergesslicher Held, ein wagemutiger Tausendsassa Josua Brenner, macht sich aus der kaputten Neuen Preußischen Republik auf den Weg Richtung Süden. Er will endlich in einer besseren, sicheren Welt leben. Der Autor hat gesellschaftlichen Verschiebungen nachgespürt, dem Thema Migration ein neues Gesicht verliehen und mehrere grundsätzliche geopolitische Was-wäre-wenn-Fragen gestellt. „Der Platz an der Sonne“ spielt in einer ausgedachten Vergangenheit, die gleichzeitig eine angenommene Zukunft darstellt. Ein wilder, überraschender, beängstigend aktueller, umgekehrter Fluchtroman!
Christian Torkler
Der Platz an der Sonne
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2018
ISBN: 978-3-608-96290-1
592 Seiten
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