János Weiss empfiehlt
Die blinden Flecken der 68er-Bewegung
Zum fünfzigsten Jubiläum von 1968 ist eine ganze Flut an Büchern erschienen, unter denen dieses Werk besonders heraussticht. Wolfgang Kraushaar war selbst Teilnehmer der Bewegung in der Spätphase, heute gilt er als einer der bedeutendsten Chronisten der Ereignisse. Seine dreibändige, zum vierzigsten Jubiläum der Bewegung veröffentlichte Großdokumentation über das Verhältnis von Frankfurter Schule und Studentenbewegung sorgte für großes Aufsehen. Bereits diesen Bänden gab er interessanter Weise den Untertitel „Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail”.
Das jetzige Buch fungiert als Paar des ein Jahr zuvor erschienenen Bandes Die blinden Flecken der RAF. In diesem Band steht der Begriff „blinder Fleck” für den verborgenen Ursprung der RAF, den schon der Titel des ersten Kapitels, „1968 und die Anfänge des linken Terrorismus”, offenlegt. Kraushaar berichtet an einer Stelle darüber, dass es beim Übergang von der 68er-Bewegung zum bewaffneten Kampf zwei Schlüsselfiguren gab, nämlich Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann, welche zu den allerwichtigsten Figuren der antiautoritären Bewegung gehörten. Dieser Übergang beschäftigt und beunruhigt den Autor zugleich sichtlich.
Im neuen Buch über die 68er-Bewegung ist der Begriff des „blinden Flecks” schon etwas näher umrissen: Hier bedeutet er nicht mehr nur einen verborgenen Zusammenhang, sondern vielmehr Aspekte, die in der Literatur zum Thema ’68 bisher noch nicht aufgetaucht sind oder denen nicht die gebührende Gewichtung zugekommen ist. So wendet sich dieser Band der „Romantik” der Bewegung, der Rolle der Unterhaltungsmusik, den Metamorphosen der Antisemitismus-Kritik und der Neuentdeckung Walter Benjamins zu. Zweifelsfrei hätte jedes dieser Themen ein Buch für sich verdient. Und dann ist da immer wieder die Gewaltfrage, die sich mal im Hintergrund verborgen hält, mal an die Oberfläche dringt. Diese Frage wurde von den Mitgliedern der Bewegung bereits vielfach diskutiert: Können Revolten gewaltfrei gehalten werden, lassen sich aktive und reaktive Gewalt unterscheiden etc.? Kraushaar spricht von der graduellen Eskalation der Gewalt, in der seiner Ansicht nach verschiedenste Faktoren eine Rolle gespielt haben, so unter anderem die Aktivität der Kommunen, ja, sogar eine Passage aus Herbert Marcuses Aufsatz Repressive Toleranz findet hier Erwähnung. Gleichzeitig erklären Mitglieder der Bewegung sowie auch viele Historikerinnen und Historiker, die Studentenbewegung sei keineswegs homogen gewesen, sondern habe sich vielmehr aus mehreren, sich voneinander wesentlich unterscheidenden Milieus zusammengesetzt. Und dass sich die Gewalt nur in einem Milieu, und innerhalb dessen auch „nur” an der Peripherie manifestiert habe. Wir warten gespannt auf die Diskussionen.
Wolfgang Kraushaar
Die blinden Flecken der 68er-Bewegung
Klett-Cotta, Stuttgart, 2018
ISBN: 978-3-608-98141-4
521 Seiten