Kristina Sprindžiūnaitė empfiehlt
Kein Sturm, nur Wetter
In diesem Buch, dessen Titel eine echte Herausforderung für Übersetzer sein wird, begleiten wir eine promovierte Neurobiologin zu Handlungsorten ihrer früheren Lieben. Angestiftet wird die imaginäre Reise durch eine Zufallsbekanntschaft, dauert genau sechs Tage, bis der neue Bekannte Robert Sturm mit der Maschine aus Sibirien wieder in Berlin Tegel landet, pendelt zwischen Viktor und Johann, Westberlin und deutscher Peripherie und bietet genug Zeit, um heraufzubeschwören, was die Protagonistin vergessen hat, dazu noch genug Gelegenheiten für Inszenierungen der Liebe vor dem inneren Auge. Alles das bekommen wir in starken kurzen Szenen dargeboten.
Judith Kuckart (Jahrgang 1959) ist keine Anfängerin auf der Literaturbühne, auch wenn sie vom Tanztheater kommt. Daran lassen unwillkürlich ihre plastischen Figuren und feine Rhythmik denken. Ja, auch starke emotionale Intensität mit Sogwirkung. Durchsetzt mit Visionen sind die Erinnerungen ein bewährtes Mittel, um zu zeigen, was im Leben eher misslungen war, aber auch dem menschlichen Gehirn erzählerisch nahezukommen. Denn die Neurobiologin forscht, was alles unser Gehirn nachweislich zum Beziehungsorgan macht. Welches nebenbei auch sehr gut die Zahlenmagie herstellen und legitimieren kann: Die Zahl 18 in Bezug zum Alter kommt in mehreren Konstellationen vor.
Die Szenen rucken vor und zurück in der Zeit, dies wirkt aber nicht verwirrend, sondern organisch, weil man ja auch sich selber überhaupt nicht chronologisch erzählt. Dazwischen kommen Aufzeichnungen der Journal-Ebene, in der von subjektiver Betrachtung zu der eines Außenstehenden, vom Spiel- zum Arbeitslicht umgeschwenkt wird. Auch dieser Wechsel animiert bestimmt Gedanken im Hinterkopf, ob wir nun das sind, was wir vergessen haben, und darüber hinaus. Denn: Geschichten sind nicht zu Ende, wenn Bücher zu Ende sind.
DuMont
Judith Kuckart
Kein Sturm, nur Wetter
DuMont, Köln, 2019
ISBN 978-3-8321-8386-8
224 Seiten
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