Dr. Krisztina Slachta empfiehlt
Die Übernahme
Schon mit dem Titel Die Übernahme schickt Ilko-Sascha Kowalczuks Buch jenen neuen Blickwinkel voraus, aus dem es die Ereignisse von 1989 und die darauffolgenden Jahrzehnte betrachtet. Die seit der Wende erschienene, ganze Bibliotheken füllende Fachliteratur konzentrierte sich in erster Linie auf die präzise Darlegung der Ereignisse von 1989, jahrzehntelang standen die positiven Aspekte der deutschen Wiedervereinigung im Mittelpunkt des öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Diskurses. Die Euphorie des Herbstes 1989 strahlte auf die Beurteilung der darauffolgenden Jahre aus, selbst die zum 20. Jubiläum erschienenen Arbeiten fokussierten im Wesentlichen auf den mitreißenden Schwung der friedlichen Wende, auf die Vorteile der Übernahme einer demokratischen politischen und gesellschaftlichen Ordnung und auf das Wunder der deutschen Wiedervereinigung – auch bei Kowalczuks 2009 erschienenem Band Endspiel: Die Revolution von 1989 in der DDR war das nicht anders.
In seinem neuen Buch hingegen geht Kowalczuk offen von einer persönlichen Perspektive aus, nichtsdestoweniger sucht sein mit akribischer historischer Sorgfalt geschriebener Band nicht nur Antworten auf die Fragen der vergangenen 30 Jahre, sondern auch auf die brennenden Probleme der deutschen Gegenwartsgesellschaft, die inzwischen ganz Deutschland betreffen und die demokratische Ordnung gefährden. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit und mittels politik- und gesellschaftsgeschichtlicher Analyse sucht und erörtert Kowalczuk die Wurzel all jener Vorgänge, die für die bis heute als neue Länder bezeichneten Bundesländer charakteristisch sind: das Gefühl der Desillusionierung, entgleiste individuelle Lebenswege, gescheiterte Karrieren und das Gefühl der wirtschaftlichen Ausbeutung. Hinter der Enttäuschung der Massen stecken die im Zuge der Wende ergriffenen, nachträglich als Fehlgriff bewerteten Maßnahmen, so ähnelte beispielsweise die in rasantem Tempo erfolgte Privatisierung einer Kolonialisierung. Der Elitenwechsel hatte nicht nur Auswirkungen auf die politisch Betroffenen, sondern auf sämtliche Lebensbereiche, so wurde beispielsweise auch das wissenschaftliche und kulturelle Leben im Zuge der Wende regelrecht „geköpft“.
Die Wende in der DDR schien zu Beginn eine kollektive Katharsis zu bringen, sie ging als Beispiel für die übrigen ehemaligen sozialistischen Länder voran, doch ihre langfristigen Auswirkungen und die jahrzehntelang unter den Teppich gekehrten Probleme sind inzwischen zu einer das ganze Land belastenden und den täglichen politischen öffentlichen Diskurs definierenden Frage geworden. Kowalczuks Buch ist ein mutiges Unterfangen zur Entwirrung eben dieser Fragen, zur Analyse der Gründe, Erklärungen, Prozesse und Möglichkeiten, und für uns alle eine spannende Lektüre.
C.H. Beck Verlag
Ilko-Sasha Kowalczuk
Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde
C.H. Beck Verlag, München, 2019
ISBN 9783406740206
319 Seiten
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Rezensionen in den deutschen Medien:
Deutschlandfunk
Süddeutsche Zeitung
Perlentaucher