Erinnerungskultur
Vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis
Wenn die Zeitzeugen sterben, steigen Museen, Denkmäler und historische Jahrestage zu Foren der Erinnerungskultur auf. In Deutschland ist die öffentliche Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus eher noch intensiver geworden.
Die Worte Bundespräsident Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs im Mai 1985 waren unmissverständlich: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Die beträchtliche, auch internationale Resonanz auf seine Rede erklärt sich nicht allein durch die Abkehr von einer Sicht des Kriegsendes als „Katastrophe“ hin zu einer „Befreiung“ vom Nationalsozialismus. Weizsäcker nahm zugleich eine aufrüttelnde Opferperspektive ein. Und er vertrat die anspruchsvolle Sicht, dass das Erinnern unter den wechselnden Anforderungen der Gegenwart eine immer neu gestellte Aufgabe darstelle.
Fortlaufendes Nachdenken über die Ursachen
In seiner Rede sprach der damalige Bundespräsident zwei Phänomene an, die in den folgenden 30 Jahren tatsächlich die öffentliche Erinnerungskultur in Deutschland immer deutlicher prägen sollten. Zum einen geht es darum, dass der 8. Mai 1945 in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend als Startpunkt für den Aufbau einer gelungenen Demokratie begriffen wurde. Die politische Kultur bezog daraus einen wachsenden Teil ihrer politischen Legitimation. Zum anderen setzte sich in der öffentlichen Erinnerungskultur, das heißt vor allem im öffentlichen politischen Gedenken, eine ausgeprägte Opferzentrierung durch. In dieser Hinsicht sind im gleichen Zeitraum international Parallelen zu beobachten, nahm man doch seit den 1990er-Jahren in vielen Ländern Europas das Phänomen der Kollaboration mit den deutschen Besatzern und die Mitwirkung von Einheimischen an den Deportationen von Juden kritisch in den Blick. Aber in keinem anderen Land Europas wurden der Holocaust und seine Folgen zu einem derart herausgehobenen Bezugspunkt der nationalen Erinnerungskultur, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall sein sollte. Das 2005 in Berlin fertiggestellte Denkmal für die ermordeten Juden Europas bildet dafür das wohl sichtbarste Zeichen für ein Millionenpublikum. In gewissem Sinne erfüllt es sogar die Funktion eines modernen Nationaldenkmals, das alle Besucher fortlaufend zum Nachdenken über die Ursachen des Zivilisationsbruchs im 20. Jahrhundert gemahnt.Die sich seit den 1980er-Jahren in der deutschen Erinnerungskultur durchsetzende Opferzentrierung und die damit einhergehende Selbstverpflichtung auf eine dauernde Selbstreflexion können ebenfalls als das Ergebnis eines Generationenwandels begriffen werden. Die Historiker von Erinnerungskulturen sprechen in diesem Zusammenhang vom Übergang von einem kollektiven zu einem kulturellen Gedächtnis. Das Erstere vergeht meist leise und unmerklich im unaufhörlichen Rhythmus der Generationenabfolgen. Das kulturelle Gedächtnis bezeichnet dagegen den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Texten, Bildern und Riten, mit denen menschliche Kollektive ihr Selbstbild stabilisieren und vermitteln. Vor diesem Hintergrund wird nochmals der Zäsurcharakter der 1980er-Jahre erklärlich, weil sich damals zum letzten Mal und dennoch laut vernehmbar die Angehörigen der Generation mit ihren unmittelbaren Erinnerungen an die NS-Diktatur in der Öffentlichkeit zu Wort meldeten. Mit ihrem Tod aber traten immer mehr Vermittler auf den Plan, um darüber zu entscheiden, was in das kulturelle Gedächtnis der Nation eingehen sollte. Im Zuge des laufenden medialen Wandels sind immer stärker Museen, Bibliotheken und Denkmäler, aber auch die wachsende Zahl historischer Jahrestage zu Foren der gesellschaftlichen Selbstverständigung der gegenwärtigen Erinnerungskultur aufgestiegen.
Haltepunkte in Zeiten beschleunigten Wandels
Für die Entwicklung in Deutschland ist charakteristisch, dass seit den 1980er-Jahren die öffentliche Erinnerung an den 8. Mai 1945 und damit zugleich an die Vorgeschichte der Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich nicht zurückgegangen ist, sondern sich eher noch intensiviert hat. Das zeigt sich nachdrücklich anlässlich der Feierlichkeiten bei öffentlichen Gedenktagen am 27. Januar (Tag der Befreiung des Lagers Ausschwitz), 8. Mai (Kriegsende), 20. Juli (Aufstand gegen Hitler) oder an dem besonders geschichtsträchtigen 9. November (Novemberrevolution 1918, Reichspogromnacht 1938, Fall der Berliner Mauer 1989). In der Summe handelt es sich dabei um kalendarische Haltepunkte, die der Öffentlichkeit in Zeiten beschleunigten Wandels die Gelegenheit geben, sich über Erfahrungen in der Vergangenheit zu verständigen und daraus gemeinsame Ziele für die Zukunft abzuleiten.Eine historische Betrachtungsweise vermag zudem aufzuzeigen, wie stark einschneidende politische und gesellschaftliche Zäsuren Erinnerungskulturen transformieren können. Zuletzt war dies überall in Europa 1989/90 der Fall: Nach dem Zusammenbruch der kommunistisch beherrschten Regime meldeten sich wie in einem Zeitraffer verschüttete Erinnerungen an der Oberfläche zurück. Sie waren zuvor über Jahrzehnte marginalisiert oder sogar unterdrückt worden. Auch der Westen Europas ist davon erfasst worden, so dass sich seitdem die Erinnerungslandschaft sowohl in Ost- als auch in Westeuropa in einem massiven Umbruch befindet. Die materiellen und symbolischen Zeichen dieser Veränderungen sind überall zu beobachten. In Deutschland äußern sie sich unter anderem in einer lebhaften Konkurrenz von Erinnerungs- und Gedenkstätten an die NS-Diktatur sowie der Erinnerung an die SED-Herrschaft.
Erinnerungskulturen sind also nicht, wie wir durch die interdisziplinär ausgerichteten Erinnerungsforschung der jüngsten Zeit erfahren können, als statische Gruppengedächtnisse zu verstehen. Sie sind vielmehr das Ergebnis fortlaufender politischer und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.