Holocaust im Comic
Ein unbekanntes Kapitel der Geschichte
In kleinformatige Schwarzweißzeichnungen schildert Reinhard Kleist in seiner Graphic Novel „Der Boxer“ die Geschichte des polnischen Juden Hertzko Haft, der den Holocaust überlebt, weil er im Konzentrationslager Jaworzno in der Nähe von Auschwitz zur Belustigung der SS-Offiziere gegen Mithäftlinge kämpfte.
„Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft“, erschienen 2012 im Carlsen Verlag, zeichnet die Lebenserinnerungen von den KZ-Erlebnissen über die dramatische Flucht und die Nachkriegszeit bis hin zum Neuanfang in den USA als Profiboxer auf Grundlage der von Hafts Sohn verfassten Biografie nach und ist in der Rahmenhandlung gleichzeitig eine Geschichte über das komplizierte Vater-Sohn-Verhältnis.
2013 erhielt Reinhard Kleist dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie "Sachbuch".
Ein Sachbuch mit großem Aufklärungspotenzial steht u.a. in der Jurybegründung des Deutschen Literaturpreises. Was hat Sie an der Lebensgeschichte des Hertzko Haft fasziniert?
Nachdem ich zufällig auf das Buch gestoßen war, hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt, etwas damit zu machen. Schreckte zunächst aber davor zurück. So ein negativer Held und dann noch die Handlung, die in zwei Teile zerfällt. Doch nach einiger Zeit merkte ich, dass genau diese Minuspunkte die Faszination ausmachen. Es muss mir nur gelingen, die Geschichte mit einer Klammer zu versehen. Dafür hatte ich dann die Liebesgeschichte zu Leah. Das ist eine Dramaturgie, die man sich nicht ausdenken würde können. Das Thema Holocaust und Boxen (und Mafia auch noch!) zusammenzubringen war sicherlich auch eine Herausforderung.
In einem Interview sagten Sie über Haft, er sei „ein starker Charakter, eine Kämpfernatur“ und „keine Maus“. Was halten Sie von Art Spiegelmans Comic Parabel „Maus - Die Geschichte eines Überlebenden“ und inwieweit unterscheidet sich Ihre künstlerische und inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust von der Spiegelmans in den 1980er Jahren?
Es ist sicher ein Tabubruch, dass ich hier eine Geschichte erzähle von jemandem, der viel Schuld auf sich geladen hat um zu überleben. Bis hin zu kaltblütigem Mord. Ich finde Spiegelmans "Maus" großartig, gerade wenn man bedenkt, in was für eine Zeit er das Werk hineingeschrieben hat. Es war revolutionär, dass jemand sich im Comic auf so eine sensible und doch direkte Art mit dem Thema beschäftigt hat. Das hat nicht nur zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem Holocaust geführt, neue Möglichkeiten der Behandlung des Themas erschlossen und auch dem Medium Comic zu einer viel größeren Akzeptanz verholfen, sondern auch das Feld bereitet für ein Buch wie meinem. "Der Boxer" wäre ohne "Maus" kaum denkbar gewesen.
Es gibt ja nun viele Behandlungen des Themas im Comic (und in anderen Medien sowieso). Mit den meisten habe ich meine Schwierigkeiten, etwa, wenn das Grauen penibel und möglichst detailreich gestrichelt wurde oder die Charaktere lediglich auf ihre Opferrolle reduziert wurden. Ich versuche die unbebilderbaren Szenen möglichst aus dem Fokus zu nehmen. Wenn ich sie darstellen muss, drehe ich die Kamera quasi unscharf und deute nur an.
Und was mich an Hertzko faszinierte war, dass er ein schwieriger Mensch ist, wie Menschen halt so sind. Man muss sich mit ihm auseinandersetzen, er macht es einem nicht einfach. Und es ist erstaunlich, wie weit man mit der Identifikation geht, das fiel mir schon bei der Lektüre von Alan Hafts Buch auf, Hertzkos Sohn, der ja die Grundlage für meinen Comic schrieb. Selbst nachdem er das ältere Ehepaar umgebracht hat, will man noch, dass er überlebt und sein Mädel wieder sieht.
Dass inhaftierte Juden zur Belustigung sowie zum Zeitvertreib der SS-Offiziere in vielen Lagern boxen mussten, ist ein bisher eher unbekanntes Kapitel der Zeitgeschichte. Im Nachwort zu „Der Boxer“ gibt der Sportjournalist Martin Krauß einen Einblick in das Thema. Hertzko Haft war also kein Einzelfall?
Nein, es gab einige solcher Fälle. Entweder waren es Männer, die im Lager zum Boxen gebracht wurden, weil sie so kräftig erschienen, wie Hertzko, oder es waren schon bekannte Boxer, die inhaftiert wurden. Der Bekannteste ist sicherlich Johann Trollmann, genannt Rukelie, ein Sinai - Roma, der mehrere Meisterschaften in Deutschland gewonnen hatte und dem der Sieg wegen seiner Herkunft aberkannt wurde. Er wurde zum Boxen gezwungen und überlebte das Lager nicht. Boxen war aber nicht der einzige Sport, der von den Nazis pervertiert wurde. Auch Fußball oder Leichtathletik wurden zum Erniedrigen der Inhaftierten benutzt.
Insbesondere Ihre biografischen Projekte erfordern ein hohes Maß an textlicher Arbeit. Wie bringen Sie den Text in ein Bild-Wort-Verhältnis? Wie würden Sie Ihre Arbeitsweise beschreiben?
Ich versuche mir die Handlung zuallererst wie einen Film vorzustellen, den ich dann in Bildsequenzen übersetze. Das mache ich mit Hilfe von Bergen von kleinen Skizzen, die die Bildfolge und das Layout der Seiten bestimmen. Als Grundlage dient mir dabei so etwas wie ein Drehbuch. Nach und nach reduziere ich dann auch den Text. Ich neige leider zum Schwafeln und vertraue zuerst den Bildern nicht. Aber Bilder haben eine ungeheure Kraft. Meine Lieblingsstelle im Boxer ist eine Sequenz von zwei Seiten, die nach dem Kampf mit Rocky Marciano erzählen, was Hertzko danach passiert. Das ist recht komplex, kommt aber völlig ohne Worte aus.
Jugendliche sind mit Comics aufgewachsen, aber ist nicht ein zusätzliches Maß an Urteils- und Kritikfähigkeit bei dem Thema Holocaust notwendig? Welche ist Ihre Erfahrung mit Schülern und Jugendlichen?
Bei verschiedenen Workshops habe ich bereits festgestellt, dass bei vielen Jugendlichen das Interesse für das Thema groß ist. Nicht bei Allen, aber vielen. Der Comic bietet zu allererst eine andere Herangehensweise an, als ein Sachbuch. Es ist eine Art gefühlte Wahrheit. So gelingt es, sich nach der Lektüre weiter mit einem Thema zu beschäftigen, darüber zu reden und dabei die Bilder, die man vorher gesehen hat mit den Fakten zu verbinden. Urteilsfähigkeit muss sich ja auch erst mal bilden. Da hilft es schon, wenn man so eine Geschichte liest und dann die Möglichkeit hat, darüber zu reden, weiter zu forschen und sich Gedanken darüber zu machen, was man selbst getan hätte. Ich denke, gerade bei jüngeren Lesern sollte es unbedingt sein, dass man danach mit den Eltern oder einem Lehrer darüber reden kann.
Reinhard Kleist, geboren 1970 in Hürth bei Köln, studierte Grafik und Design in Münster und lebt und arbeitet seit 1996 in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Comicarbeiten und Graphic Novels. Neben diesen schuf Reinhard Kleist Illustrationen für Bücher, Plattencover und Zeitungen, u.a. gestaltete er 2010 eine preisgekrönte Ausgabe des „Süddeutschen Magazins“ zum Thema „Völkermord“ und war als Artdirector für Trickfilme tätig. Für seine Comics wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Max und Moritz-Preis für „Lovecraft“ (Ehapa) und für „Cash – I see a darkness“. Für „Cash“ erhielt er zudem den PENG!-Preis sowie den Sondermann-Preis und war mit dem Band sowohl für den „Eisner-Award“ als auch für den „Harvey-Award“ nominiert. Vor seinem aktuellen Buch „Der Boxer“, das von März bis September 2011 in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vorveröffentlicht wurde, schuf Reinhard Kleist die Comic-Biografie „Castro“ und brachte im Vorfeld dazu das Reisetagebuch „Havanna – eine kubanische Reise“ heraus.