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Europa
Der Populismus in Europa und seine Folgen in Lettland

Der Populismus in Europa und seine Folgen in Lettland
© Colourbox

Den anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) wird die größte Aufmerksamkeit ihrer Geschichte zuteil. Zum ersten Mal ist die Europäische Union wirtschaftlich und politisch so stark, und zum ersten Mal warnen die führenden politischen Kräfte derart eindringlich vor der Welle des Populismus, der das Wachstum der EU bedroht.

Von Andris Kārkluvalks

Der oft als schärfster Gegner des Populismus im ehemaligen Ostblock bezeichnete Ratspräsident Donald Tusk erklärte kurz vor dem Referendum zum Brexit beim Jubiläum der Europäischen Volkspartei, der größten Fraktion des EP, dass deren Mitglieder, welche sowohl die Partei der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vertreten, untereinander einen Konsens finden müssten, da die europäischen Bürger ansonsten zur Lösung der Krise auf „radikalere und brutalere Rezepte“ zurückgreifen würden.

Eine Verständigung fand nicht statt, und letztes Jahr äußerte der Präsident der Europäischen Kommission (EK) Jean-Claude Juncker schon mit viel schonungsloseren Worten, dass es einen Unterschied gebe „zwischen Euroskeptikern, die Fragen und Meinungen haben, und blöden Populisten.“ Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wiederum verglich Populisten mit Lepra, während Merkel sie Gift nannte.

Einfache „Antworten“ geben

Entgegen der verbreiteten Auffassung, Populismus sei ein zerstörerischer Ansatz, ist dessen Kern das viel einfachere Prinzip „wir gegen die anderen“. Zudem bietet er seine Lösungen einem breiten ideologischen Spektrum an, wie die rechten und linken Kräfte, die derzeit die italienische Regierung bilden, bestätigen, indem sie nur gegen Brüssel vereint sind.

Populismus kommt gewöhnlich in Wellen und wird fast immer von bestehenden politischen Problemen ausgelöst. „Populismus tritt in Krisen auf. Er bietet einfache, bereits populäre Ideen, die im Gedächtnis der Massen hängen bleiben und das Problem zu erklären scheinen. Außerdem kann er anderen Lösungen gegenübergestellt werden, die komplizierter sind und den Massen somit sinnlos erscheinen,“ erklärt Klāvs Sedlenieks, Sozialanthropologe und Dozent an der Stradiņš Universität Riga. Eine solche Idee sei es, Immigranten für die Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen. Auch in den dreißiger Jahren in Deutschland den Juden die Schuld an allen Problemen zu geben, war populistisch.

Zudem können Verwaltungsprobleme am einfachsten der Spitze der Hierarchie vorgeworfen werden, selbst wenn die entsprechenden Entscheidungen auf lokaler Ebene getroffen oder falsch interpretiert wurden. „Brüssel“ ist dafür ein leichtes Ziel – das Wissen in der Gesellschaft über die Institutionen der EU ist gering, und die Entscheidungsfindung ist oft kompliziert und langwierig.

Populisten fördern Korruption

In Krisenzeiten kann die politische Elite mit dem Gegensatz „das Volk gegen die politischen Anführer“ nicht nur für die Krise und deren Nichtlösung verantwortlich gemacht werden, sondern für fast alles. So beschuldigte die italienische Regierung die EK letzten Herbst der Diktatur, als sie aufgefordert wurde, einen den Regeln des Euroraums entsprechenden Haushalt vorzulegen. Orbán wiederum unterstellt Juncker, die Immigration zu fördern, obwohl die Denkfabrik Bruegel zu dem Schluss kam, die EK habe mit dem anfänglichen Versuch, die nationalen Reaktionen zu koordinieren, pragmatisch gehandelt, was positiv zu bewerten sei.

„[Der Populismus] wurzelt in der Wechselwirkung zwischen sozialer Ungleichheit und Korruption, was in der Gesellschaft Enttäuschung über die Unfähigkeit des Staates und den Ausschluss eines Teils der Gesellschaft vom Entscheidungsprozess auslöst. Dies führt zu Unterstützung für die Populisten, die versprechen, den Teufelskreis der Korruption zu durchbrechen und gegen das korrumpierte elitäre System zu kämpfen. Oftmals wollen jedoch die Politiker, die mit solchen Versprechen Unterstützung erhalten, gar nicht dagegen kämpfen, erklärt Liene Gātere, Leiterin der „Gesellschaft für Offenheit – Delna“. Vor einigen Jahre folgerte „Transparency International“ in einer Studie sogar, dass eine Machtübernahme von Populisten die Korruption nur verstärkt und den Einfluss der demokratischen Institutionen schwächt[i].

Laut Gātere ist Ungarn ein Beispiel dafür – bei der Machtübernahme werden Institutionen zum Schutz von Bürgerrechten mit den eigenen Leuten besetzt, damit Nachrichten über Korruptionsskandale die Bevölkerung erst gar nicht erreichen.

Herausforderungen für Lettland

Obwohl Europas führende Politiker vor den „brutalen Rezepten“, der „Lepra“ und dem „Gift“ des Populismus warnen und die vom EP in Auftrag gegebenen soziologischen Umfragen bestätigen, dass die antieuropäischen Kräfte ihren Einfluss im Parlament tatsächlich ausweiten werden, wird deren Machtübernahme nicht erwartet. Entsprechend ist auch die Möglichkeit, dass die Populisten so viel Einfluss gewinnen, dass sie die demokratischen Strukturen zerstören und die jahrelang von der EU gepflegten Werte ändern könnten, unwahrscheinlich.

Gleichzeitig schafft die Etablierung der Populisten in Europa Herausforderungen, und auch Lettland wird sich ihnen anpassen müssen, so der Sozialanthropologe Roberts Ķīlis, Dozent an der Wirtschaftshochschule Riga. „Das ist eine neue Art von Spieler, mit dem die Eliten nicht zurechtkommen. Dazu noch ein bedeutender Spieler – wenn man nicht weiß, wie man mit ihm umgeht, hat er einen zusätzlichen Vorteil. Er kann unerwartete Angebote machen und ungeahnte Kräfte mobilisieren,“ erklärt Ķīlis.

Der ehemalige Minister betont, dass die Populisten bei einer stärkeren Vertretung im Europäischen Parlament die bereits langsamen Prozesse in den europäischen Strukturen weiter verzögern können, indem sie Projekte blockieren oder hinauszögern und neue Initiativen aufhalten oder einbringen.

In Lettland glaubt man nicht einmal Populisten

Es gibt keine Daten über die Sympathien der lettischen Bürger für die politischen Kräfte anderer Länder, doch eine Unterstützung bestimmter Politiker und Ideen macht sich trotzdem in den Kommentaren von Internetportalen und den sozialen Netzwerken bemerkbar. „In Lettland gibt es Unterstützung für die Populisten anderer Staaten, da wir selbst keine erfolgreichen Populisten haben. Der Antiföderalismus und die europafeindliche Haltung in Polen und Ungarn ist anziehend, weil es in Lettland keine Alternative mit solch einem Angebot gibt. Der Bedarf ist da; das Angebot hier nicht, aber anderswo schon,“ erklärt Ķīlis.

Er kenne keine zielstrebigen Personen in Lettland, die offenen und rationalen Populismus betreiben. „Das ergibt sich eher einfach so. Und wenn es sich ergibt, dann haben die Personen keine weitergehenden Schritte geplant. Es sind einige schwache Versuche erkennbar, das zu formulieren. Derzeit versuchen die Mitglieder dieser Parteien noch herauszufinden, was sie in der Regierung tun sollen, und wissen nicht, was das EP hergibt,“ so Ķīlis. Der Sozialanthropologe sagt, die gesellschaftlichen Sympathien für die Populisten anderer Länder gäben heimischen Populisten Hoffnungen für die Zukunft. Zudem weisen ein hoher Korruptionswahrnehmungsindex[i] und Ungleichverteilungskoeffizient[ii] darauf hin, dass alle Voraussetzungen gegeben sind.

„Es ist eine interessante Frage, warum es in Lettland keinen Orbán gibt, denn die Voraussetzungen für Populismus in Lettland sind noch und nöcher gegeben,“ findet Artis Svece, Dozent am Institut für praktische Philosophie der Universität Lettlands. „Ein Erklärungsansatz, der allerdings nicht von mir kommt, besagt, das Misstrauen gegenüber Politikern sei in Lettland so groß, dass es nicht einmal eine charismatische Führungsperson geben kann – hier glaubt man nicht einmal Populisten. Es kann auch sein, dass es einfach Zufall ist, dass noch niemand einen Weg gefunden hat, die Menschen anzusprechen.“

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