Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Übersetzungen
Kulturreise – deutsche Literaturübersetzungen in Lettland bis 1990

Deutsche Literatur wurde im Original gelesen, aber auch Übersetzungen wurden veröffentlicht
Deutsche Literatur wurde im Original gelesen, aber auch Übersetzungen wurden veröffentlicht | Foto: Latvijas Fotogrāfijas muzejs

Der Einfluss der deutschen Sprache und Kultur auf unseren – lettischen – Kulturraum und ihr Platz darin wurden weitreichend erforscht, meistens zurückblickend auf die fernere Vergangenheit. Dabei sollte auf jeden Fall die 2005 von einem Autorenkollektiv veröffentlichte umfangreiche monografische Forschungsarbeit „Deutsche Literatur und Lettland, 1890–1945“ erwähnt werden. Die zeitgenössischen Prozesse der heutigen deutsch-lettischen Kulturkontakte – besonders im Bereich der Übersetzungen – werden vermutlich auch analysiert, doch hat die Forschung hier noch nicht zu ausreichend weiten Publikationen geführt.
 

Von Sigita Kušnere

Deutschkenntnisse auf hohem Niveau

Im Kontext der Wechselwirkung zwischen der Literatur verschiedener Länder muss erwähnt werden, dass die Alphabetisierung in Lettland gegen Ende des 19. Jahrhunderts die höchste im Russischen Reich war. Auch die Fremdsprachenkenntnisse – Deutsch und Russisch – waren auf einem sehr hohen Niveau, denn betrachtet man beispielsweise einmal die Biografien beliebiger lettischer Autoren und Autorinnen oder Poeten und Poetinnen der Jahrhundertwende um das 19./20. Jahrhundert, so findet man sowohl Hinweise auf selbstständige Weiterbildung durch das Lesen deutscher und russischer Originalliteratur als auch auf das Übersetzen aus diesen oder anderen europäischen Sprachen, was unbestreitbar auch ihre eigene literarische Handschrift beeinflusste. Deutsche Literatur wurde im Original gelesen, aber auch Übersetzungen wurden veröffentlicht, häufig in Zeitschriften. Deutsch diente in dieser Zeit oft auch als Mittlersprache, so wurde Henrik Ibsens Stück „Nora oder Ein Puppenheim“ (lett. „Leļļu nams“, 1900; Et dukkehjem, 1879) von Edvards Treimanis-Zvārgulis aus dem Deutschen ins Lettische übersetzt.

Die enge Koexistenz der lettischen und deutschbaltischen Kulturen über Jahrhunderte führte dazu, dass Deutschkenntnisse als obligatorisches Werkzeug gebildeter lettischer Personen gegen Ende des 19. Jahrhunderts als selbstverständlich vorausgesetzt wurden, was sich erst nach der verstärkten Russifizierung und der Bildungsreform in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts änderte, als Russisch zur Unterrichtssprache wurde, Lettisch nur im Religions- und Gesangsunterricht Platz hatte und Deutsch hauptsächlich an Privatschulen unterrichtet wurde.

Der Blick geht nach Russland

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandte sich der Blick des lettischen Literatentums zunehmend gen Russland, und somit geschah das Unterrichten der westeuropäischen Kulturprozesse größtenteils auf Grundlage ihrer Rezeption in Russland. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich im Russischen Reich die Propaganda gegen alles Deutsche. Die Bereitschaft der Letten und Lettinnen, diesen Aufforderungen der Staatsmacht zu folgen, hing möglicherweise mit der Erziehung oder der familiären Kulturtradition zusammen. Der Künstler Uga Skulme schreibt in seinen Erinnerungsnotizen: „Wir waren ja alle so erzogen, dass der Deutsche unser Erzfeind war, der Russe hingegen ein Bruder, Freund und eine sichere Zuflucht.“[1] Doch es ist gut möglich, dass sich dieser Hass gerade angesichts des Informationskriegs in der Vorkriegszeit bildete. Der lettische Offizier und Schriftsteller Aleksandrs Plensners bemerkt in seiner Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs: „Das Verhältnis zum Krieg war auch in Russland nun [...] ein anderes als im Russisch-Japanischen Krieg. Jetzt hatte der Krieg auch in Russland mit patriotischen Demonstrationen und Reden begonnen. „Gott, schütze den Kaiser“ wurde wahrscheinlich nie so ehrlich gesungen wie jetzt. Es wurde nicht nur der deutsche Kaiser als Ursache allen Übels gehasst, sondern alles Deutsche. Deutsche durften sich in Russland nicht mehr in ihrer Sprache verständigen. Die Treue der Soldaten mit deutschem Nachnamen gegenüber Russland wurde angezweifelt.“[2]

So scheinen die kurz vor dem Ersten Weltkrieg in einer solchen Stimmungslage verfassten Äußerungen des Dichters Edvarts Virza über das Deutsche nicht mehr überraschend, beispielsweise: „[...] alle Deutschen, die über das Nationale hinausdenken und mit Menschlichkeit in Zusammenhang stehen, hassen die deutsche Kultur. Schopenhauer und Nietzsche fallen in Goethes Kategorie – Menschen mit einer großen geistigen Überlegenheit, die mit aller Kraft alles Deutsche loswerden wollen. Mit Goethes Zeitalter schließt sich auch das letzte helle deutsche Kulturfenster und wir sehen, dass vor unseren Augen allmählich ein riesiges, vereintes, dunkles Gebäude Deutschlands entsteht, hinter dessen vergitterten Fenstern alle möglichen Arbeiten geschehen, aber nicht die einer großen und intellektuellen Kultur.“[3] Doch trotz dieser scharfen Äußerungen und in der Gesellschaft existierenden Meinungen wurde auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch deutsche Literatur gelesen, im Original und als Übersetzungen.

Keine Eile, deutsche Literatur auf Lettisch zu veröffentlichen

Möglicherweise in der Annahme, dass die gebildeten Lettinnen und Letten Deutsch fließend sprechen und im Original lesen konnten, hatten die Verleger Anfang des 20. Jahrhunderts keine Eile, hochwertige zeitgenössische deutsche Literatur auf Lettisch zu veröffentlichen. Zu der Zeit gab es bereits viele aus dem Deutschen übersetzte Arbeiten der Unterhaltungs- oder praktischen Literatur, bei denen oftmals nicht einmal der Autor des Originals oder die Sprache, aus der übersetzt wurde, angegeben war. Einzig die sprachlichen Konstruktionen in der Übersetzung, das Thema oder die Namen der im Werk genannten Personen lassen darauf schließen, dass das Original eine Verbindung zu einem deutschsprachigen Land aufweist.

Eine der kulturgeschichtlich bedeutenden deutschen Literaturpublikationen in lettischer Sprache vom Anfang des 20. Jahrhunderts ist die 1913 veröffentlichte, von Vilis Plūdonis nachgedichtete Sammlung „Moderne deutsche Lyrik“, die den weißen Fleck füllt, der im Wissen der lettisch Lesenden über das damals Aktuelle in der deutschsprachigen Dichtung entstanden war.

In späteren Jahren wurden Werke von Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Erich Kästner und anderen bedeutenden Autoren ins Lettische übersetzt. Auch zur Zeit des ersten unabhängigen lettischen Staates wurde die frühere Tradition fortgesetzt – Deutsch diente weiterhin als Mittlersprache; so wurde beispielsweise Mark Twains Reisetagebuch „Die Arglosen im Ausland“ (lett. „Ceļojums“, 1939; The Innocents Abroad, 1867) und weitere Werke dieses Autoren aus dem Deutschen übersetzt. Auch Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ (lett. „Alise Brīnumzemē“, 1937; Alice’s adventures in Wonderland, 1865), gelangten zunächst nicht aus dem Original, sondern über Deutsch als Mittlersprache zur lettischen Leserschaft.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden auch Werke deutschbaltischer Autoren herausgegeben, zum Beispiel Oskar Grosbergs „Zemgales stāsti” (lett. 1938, Semgallische Erzählungen) und der Roman „Mežvalde” (Meschwalden. Ein altlivländischer Gutshof im Kreislaufe des Jahres, 1922), welcher auf Lettisch gar dreimal herausgegeben wurde (1928, 1942, 1943) und ein viertes Mal im 21. Jahrhundert, im Jahr 2005.

Zunächst wurde in Russland die „Zulässigkeit“ eines Buchs ausgewertet

Die dem Zeitraum der lettischen Unabhängigkeit folgenden Besetzungen 1940 (Sowjetunion), 1941 (nationalsozialistisches Deutschland) und 1945 (Sowjetunion) raubten dem Land die Möglichkeit, frei zu entscheiden, was übersetzt und herausgegeben werden sollte und warum. Die Zensur und das ideologische Diktat wurden verstärkt. Während der sowjetischen Okkupation wurden die Werke Kästners, Remarques, Hesses, Feuchtwangers und einiger anderer Autoren als ideologisch „richtig“ oder ausreichend neutral erachtet und konnten somit übersetzt und herausgegeben werden. Nach Tradition der Sowjetzeit wurde zunächst in Russland die „Zulässigkeit“ eines Buchs ausgewertet, und erst dann konnten andere Sowjetrepubliken an das Übersetzen und Verlegen dieser Bücher denken. Ein Großteil der Veröffentlichungen aus der Sowjetzeit müssten eigentlich als Piraterie angesehen werden, da den Autoren der „kapitalistischen Staaten“ für die Übersetzungen keine Nutzungsgebühren gezahlt wurden. Möglicherweise wurden in deutschen Originaltexten, wie auch in Publikationen lettischer Literatur und Übersetzungen anderssprachiger Literatur, Zensuren und Kürzungen vorgenommen. Diese Frage müsste noch erörtert werden.

Im Gesamtkatalog der Lettischen Nationalbibliothek sind 258 Bücher als zwischen 1945 und 1990 aus dem Deutschen übersetzt angegeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus ideologischen Gründen weniger Deutsch gelernt und es war nicht möglich, für längere Aufenthalte nach Westeuropa zu fahren, darunter in den deutschsprachigen Kulturraum – Deutschland, Österreich und die Schweiz. Doch die Tradition des Herausgebens und Lesens deutscher Literatur setzte sich, wenn auch begrenzt, während der sowjetischen Okkupation fort.

Top