Ziviler Ungehorsam
Die Grenzen des Protests
Klimaschutzorganisationen wie „Die Letzte Generation“, „Extinction Rebellion“ und „Ende Gelände“ machen europaweit mit medienwirksamen Aktionen auf den Klimaschutz aufmerksam und fordern den Rechtsstaat heraus. Ist diese Art des Aktivismus ein legitimer Bestandteil demokratischer Verhältnisse?
Von Eva-Maria Verfürth
Viele Aktionsbündnisse sind der Auffassung, dass die Politik den drohenden Klimakollaps noch immer nicht ernst genug nimmt, und tragen ihren Unmut auf die Straße, um gegen fossile Energien zu demonstrieren. Dabei belassen sie es mittlerweile nicht mehr bei Demonstrationen und Kundgebungen: Sie kleben sich auf Autobahnen fest, blockieren Bagger oder Pipelines.
Den zumeist jungen Leuten schlägt viel Gegenwind entgegen, denn ihre Aktionen zivilen Ungehorsams polarisieren. Einmal mehr spaltet die Umweltschutzbewegung die Gesellschaft. Die Kernfrage: Rechtfertigen ihre Anliegen Blockaden, Sirup in Baumaschinentanks, losgedrehte Baggerschrauben und Ventile, umgeworfene Bauzäune?
Rechtswidrig oder vom Grundgesetz legitimiert?
„Ja“, so Aktivist Tadzio Müller im Politik-Magazin „Panorama“. All dies geschehe „im Rahmen eines rechtfertigenden Notstandes“, den das EU-Parlament am 28. November 2019 ausgerufen habe. Auch das Bundesverfassungsgericht habe im April 2021 gesagt, dass die Klimakrise die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen zu vernichten drohe. „Für mich sind diese Aktionen legitime Notwehr.“
Einige Umweltgruppen berufen sich auf das Widerstandsrecht im Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes, in dem es um Angriffe auf die Verfassung, die Ordnung der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates geht: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Anders sieht das Justizminister Marco Buschmann (FDP): „Ziviler Ungehorsam ist im deutschen Recht weder Rechtfertigungs- noch Entschuldigungsgrund. Unangemeldete Demos auf Autobahnen sind und bleiben rechtswidrig“, twitterte er nach einer Blockadeaktion. Gerichte sehen das bislang meist ähnlich und verurteilen die Aktivist*innen in den meisten Fällen zu Geld- oder Haftstrafen. Allerdings wird genau diese Beurteilung in Fachkreisen derzeit intensiv diskutiert. Auch einige Richter*innen ziehen andere Schlussfolgerungen: Im November 2022 erkannte das Flensburger Amtsgericht die Argumentation des „rechtfertigenden Notstands“ an und sprach einen Baumbesetzer frei, der wegen Hausfriedensbruch angeklagt war.
Kurz: Juristisch bleibt es kompliziert.
Was auch in der Natur des zivilen Ungehorsams begründet liegt: Per Definition geht es bei dabei um (leichte) Verstöße gegen rechtliche Normen und Gesetze, die von den Protestierenden bewusst begangen werden. Ist die Protestform damit nicht sogar per se illegitim? Ganz so einfach ist es nicht.
„Lackmustest für gereifte Demokratien“
Nach einer Klebeblockade in Berlin im Oktober 2022 appellierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zwar an die Letzte Generation, mit ihren Aktionen nicht zur Gefährdung anderer beizutragen. Gleichzeitig betonte er aber auch, „dass wir kritische Haltung, kritischen Protest akzeptieren müssen“. In der Süddeutschen Zeitung befindet die Schriftstellerin Jagoda Marinić über die „Generation ziviler Ungehorsam“: „Rebellion bedeutet heute, die Welt ernst zu nehmen.“ Die Jugend um Greta Thunberg, Rezo und Billie Eilish wolle die Älteren „aus dem Demokratie-Koma erwecken“. Der Umgang mit zivilem Ungehorsam werde dabei zur Visitenkarte der Demokratie: „Während in China Protestierende vor den Augen der Welt brutal niedergeschlagen werden, hält im Westen die Gründerin von Fridays for Future ihre Wutrede vor den Vereinten Nationen.“
Wem die heutigen Klimaaktivist*innen zu radikal sind, sei an die Aktionen früherer Tage erinnert – wie hier die Besetzung der Brent Spar Ölplattform durch Greenpeace 1995.
| Foto (Detail): © picture-alliance/dpa/epa/AFP
Ungehorsam als Zeichen einer funktionierenden Demokratie? „Der Umgang mit gerechtfertigtem zivilem Ungehorsam ist der Lackmustest für gereifte Demokratien und muss als notwendiges Element ihrer politischen Kultur angesehen werden“, schreibt auch Bernward Gesang, Professor für Philosophie und Wirtschaftsethik in Mannheim. In einem Essay für die taz reflektiert der Buchautor unter anderem darüber, inwieweit ziviler Ungehorsam zu rechtfertigen sei. „In der Philosophie wird spätestens seit der Zeit von John Locke (1632–1704) darüber nachgedacht.“ Locke zufolge sei ziviler Ungehorsam „als Motor für den Wandel des Rechts unerlässlich“ und dann gerechtfertigt, wenn man „zur Vermeidung der Ungerechtigkeit das Gesetz nicht anrufen konnte“. Kurz: Wenn legale Versuche gescheitert seien, könne ziviler Ungehorsam nötig sein. Gesang selbst weist darauf hin, dass es viele gesellschaftliche Veränderungen – von der Abschaffung der Apartheid in den USA bis zum Kohleausstieg in Deutschland – ohne zivilen Ungehorsam nicht gegeben hätte.
Locke nimmt mit seiner Einschätzung voraus, was viele Philosoph*innen nach ihm ähnlich sehen werden. Auch ihrer Definitionen zufolge ist ziviler Ungehorsam jedoch nur für gesamtgesellschaftliche, nicht für individuelle Ziele gerechtfertigt – etwa dann, wenn der Rechtsstaat die Menschenrechte oder das Allgemeinwohl missachte, wie Gesang erklärt. So definiert der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas zivilen Ungehorsam als moralisch begründeten Protest, „dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen. Er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist […]; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“
Es gehe also bei der Bewertung von Protestaktionen nicht nur um die Methoden, fährt Gesang fort: Wenn ziviler Ungehorsam – zu dem auch gehört, Gesetze zu brechen – nicht dem Wohl aller diene, sei er auch nicht gerechtfertigt. Zudem müsse ziviler Ungehorsam aber auch möglichst gewaltarm und das Ziel nicht unerreichbar sein. Die Frage, ob die Klima-Protestaktionen gerechtfertigt seien, hängen ihm zufolge daher von dieser Abwägung ab: Wie groß ist der angerichtete Schaden im Vergleich zur Erfolgswahrscheinlichkeit? Oder anders: Wie groß ist die Notwendigkeit und wie viel Nötigung kann man dadurch rechtfertigen?
Alles schonmal dagewesen
Die Letzte Generation kündigte unterdessen an, ihre Proteste zu intensivieren. Die Diskussionen um Notwendigkeit versus Nötigung werden also in die nächste Runde gehen. Mehrere Hundert Strafverfahren laufen derzeit gegen die Gruppierung. „Ein schmaler Grat“, sagt die Protestforscherin und Politikwissenschaftlerin Anna Nora Freier in der ZDF-Wissenssendung „nano“ über Aktionen, die strafbar Relevantes wie Nötigung, Sachbeschädigung oder Sabotage beinhalten. Sie bekämen zwar viel mediale Aufmerksamkeit. Wenn jedoch Formen gewählt würden, „die die Grenzen des friedlichen Protests überschreiten und strafrechtlich relevant sind, kann es sein, dass sich die Bevölkerung hier nicht mehr solidarisieren kann.“ Auch die Diskussion über zivilen Ungehorsam ist nicht neu – insbesondere an den Protesten gegen die atomaren Zwischenlager entbrannte sie immer wieder neu, wie hier in Gorleben im März 1979. | Foto (Detail): © picture-alliance/Sven Simon Neu ist übrigens weder diese Form des Klima-Protests noch die öffentliche Debatte dazu. Mit riskanten und medial wirkmächtigen Aktionen machte das Greenpeace-Flaggschiff „Rainbow Warrior“ in den 1970er- und 1980er-Jahren gegen Atomtests und das Abschlachten von Robben mobil. Friedens-, Umwelt- und die Anti-AKW-Bewegungen organisierten Sitzstreiks und Blockadeaktionen in ganz Europa, enterten Ölplattformen, ketteten sich vor Castor-Transporten auf Bahnschienen. Viele Politiker*innen von heute, darunter auch Habeck, 53 Jahre alt, haben diese Protestbewegungen miterlebt, als sie selbst in dem Alter der heute Protestierenden waren. Auch damals wurde aufs Heftigste gestritten, an der Debatte geändert hat sich seither wenig.